Halte dein Herz, o Wanderer, fest in gewaltigen Haenden!
Mir entstuerzte vor Lust zitternd das meinige fast.
Rastlos donnernde Massen auf donnernde Massen geworfen,
Ohr und Auge wohin retten sie sich im Tumult?
Wahrlich, den eigenen Wutschrei hoerete nicht der Gigant hier,
Laeg er, vom Himmel gestuerzt, unten am Felsen gekruemmt!
Rosse der Goetter, im Schwung, eins ueber dem Ruecken des andern,
Stuermen herunter und streun silberne Maehnen umher;
Herrliche Leiber, unzaehlbare, folgen sich, nimmer dieselben,
Ewig dieselbigen – wer wartet das Ende wohl aus?
Angst umzieht dir den Busen mit eins, und, _wie_ du es denkest,
Ueber das Haupt stuerzt dir krachend das Himmelsgewoelb!
Am Rheinfall
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Am Rheinfall“ von Eduard Mörike beschreibt die überwältigende Erfahrung eines Betrachters angesichts der Naturgewalt des Rheinfalls. Die ersten beiden Verse etablieren die zentrale Herausforderung des Gedichts: die Intensität der Erfahrung, die den Betrachter fast überwältigt. Die Aufforderung, das Herz festzuhalten, deutet auf die physische und emotionale Bedrohung hin, die von der Naturgewalt ausgeht, ein Gefühl des Schwindels und der Ehrfurcht, das den Leser in das Gedicht hineinzieht.
Die folgenden Verse entfalten das eigentliche Bild des Wasserfalls und die sensorischen Eindrücke, die er erzeugt. Das Ohr wird von dem „rastlos donnernden“ Getöse überflutet, während das Auge nach einer Orientierung sucht. Die Beschreibung ist geprägt von superlativischem Ausdruck wie „donnernde Massen“ und „Gigant“, was die gewaltige Größe und Unbarmherzigkeit des Wasserfalls unterstreicht. Mörike vergleicht das Naturschauspiel mit Göttern, die mit ihren Pferden in einem unaufhaltsamen Sturz herabstürzen, was die mythische Dimension der Natur verstärkt und die menschliche Perspektive relativiert.
Die Bewegung des Wassers wird in fließenden Bildern dargestellt, in denen sich die Formen unaufhörlich verändern und doch stets gleich sind. Die „silbernen Mähnen“ der Pferde und die „herrlichen Leiber“ der Wassermassen erzeugen eine Ästhetik des Unendlichen, die den Betrachter sowohl fasziniert als auch beängstigt. Die schiere Größe und Unberechenbarkeit der Natur erzeugen eine tiefe Angst, die den Betrachter umfängt.
Der abschließende Vers gipfelt in einer apokalyptischen Vision, die die Erfahrung der überwältigenden Naturgewalt in eine existenziell bedrohliche Dimension hebt. Die Angst, die den Busen umgibt, verwandelt sich in die Vorstellung eines einstürzenden Himmelsgewölbes, was die Auflösung der menschlichen Welt in der Natur symbolisiert. Diese Zeile verdichtet die vorherigen Eindrücke zu einem Gefühl der totalen Überwältigung und des drohenden Untergangs. Mörike nutzt hier die Kraft der Sprache, um die Erfahrung von Ehrfurcht und Furcht vor der Natur in einer eindringlichen und poetischen Weise zu vermitteln.
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Lizenz und Verwendung
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