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Am Morgen

Von

Das Morgenrot schwimmt still entlang
Den Wolkenozean;
Den Gliedern zart mit Liebesdrang
Schmiegt sich die Welle an.
Ihm folgt die Sonn′ im Sphärenklang,
Ein roter Flammenkahn;
Ein lindes Rauschen grüßt den Tag:
Ist es ihr Ruderschlag?

Und es erwachen mit Gezisch
Die bunten Vögelein;
Sie strecken keck aus dem Gebüsch
Die Köpflein rund und klein
Und tauchen in die Tauluft frisch
Die feinen Glieder ein;
Die Schnäblein üben sie zumal
In Liedern ohne Zahl.

Und auch die Blumen senden früh
Den leisen Duft ins Land;
Um ihre Stirnen winden sie
Ein hell Juwelenband.
Das Spinnlein selbst mit großer Müh′
Braucht die geübte Hand;
Es hat sein Netzlein reich gestrickt,
Mit Perlenreihn geschmückt.

Ich sinne, wem solch heitres Fest
Mag zubereitet sein,
Und wem zu Liebe läßt sein Nest
Das treue Vögelein.
Da spricht zu mir der linde West
Mit seinem Stimmlein fein:
Bist du denn also hart und blind,
Du töricht Menschenkind?

Was gehst du doch so stumm einher,
Wo Alles Jubel singt?
Was wandelst du so arm und leer,
Wo Alles Gabe bringt,
Daß selbst zu Gottes Lob und Ehr′
Vom Aug′ der Erde dringt
Gar manche Träne, daß sie ganz
Davon bedeckt mit Glanz?

Er ist es, den so minniglich
Das Lied der Vögel trägt,
Dem mit Gesang so inniglich
Der Baum die Zweige regt,
Für den die Sonne rings um sich
Die Strahlenwimpel schlägt.
All Herz tut sich ihm freudig auf:
Wach auf, wach auf, wach auf!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Am Morgen von Annette von Droste-Hülshoff

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Am Morgen“ von Annette von Droste-Hülshoff ist eine lyrische Beschreibung des Morgens, die in eine Betrachtung über die menschliche Fähigkeit zur Freude und Dankbarkeit mündet. Das Gedicht beginnt mit einer detaillierten Schilderung der Natur, insbesondere des Sonnenaufgangs und der erwachenden Tierwelt. Die Autorin nutzt lebendige Bilder und sinnliche Details, um die Schönheit und das Erwachen des Tages zu beschreiben, wobei der sanfte Übergang von der Stille zum lebhaften Treiben der Natur betont wird.

In der zweiten Hälfte des Gedichts wendet sich die Autorin von der äußeren Betrachtung der Natur einer inneren Reflexion zu. Sie fragt sich, wem all diese Schönheit und Freude gewidmet ist, und sucht nach der Bedeutung dieses morgendlichen Festes. Der „linde West“, also der Westwind, tritt als Sprecher auf und ermahnt die Autorin für ihre Blindheit gegenüber der Freude und dem Jubel, die in der Natur allgegenwärtig sind. Dieser Übergang von der Beschreibung der Natur zur direkten Ansprache der menschlichen Seele markiert einen Wendepunkt im Gedicht.

Die Natur wird als Ausdruck der göttlichen Schöpfung interpretiert, die in ihrer Schönheit und Freude ein Loblied auf Gott singt. Die Vögel, Blumen und die Sonne sind Teil eines großen, harmonischen Gesangs, der sich an Gott richtet. Die Autorin, die anfangs als Betrachterin erscheint, wird nun als das „törichte Menschenkind“ angesprochen, das die Fülle der Gaben und die Freude, die die Natur bietet, nicht wahrnimmt. Diese Kritik an der menschlichen Unfähigkeit, die Schönheit und das Glück zu schätzen, die uns umgeben, ist ein zentrales Thema des Gedichts.

Das Gedicht endet mit einem eindringlichen Appell zum Erwachen, der sich an die gesamte Menschheit richtet. Die Wiederholung des Aufrufs „Wach auf, wach auf, wach auf!“ verstärkt die Dringlichkeit der Botschaft und fordert den Leser auf, die Augen für die Schönheit der Schöpfung zu öffnen und sich der Dankbarkeit hinzugeben. Das Gedicht ist somit eine Mahnung, die Natur als Spiegelbild göttlicher Gnade zu betrachten und sich an der Freude und dem Lob, das sie darstellt, aktiv zu beteiligen. Es ist ein Plädoyer für ein Leben in Achtsamkeit und Dankbarkeit gegenüber der Schöpfung.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.