Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , ,

Alte Schrift

Von

Jüngst verlockt′ es mich im Abendglimmen,
Zum Lombardenturm emporzuklimmen,
Dem verschollnen Herrscher hier im Gaue,
Der die Ferne noch beherrscht, die blaue.

In den Mauern bin ich lang geblieben:
Alte Namen standen rings geschrieben
Hoch im Raume, wo die Luken schimmern,
Doch die Wendeltreppe lag in Trümmern.

Die den Blick ins Weite dort gerichtet,
Ihre Wanderstäbe sind vernichtet,
Ihre leichten Mäntel sind verstoben,
Ihre Sprüche blieben aufgehoben.

Einer dichtet Anno fünfzehnhundert:
„Gott hab ich in der Natur bewundert!,
„Gaudeamus!“ gräbt ein flotter Zecher
Um den keck entworfnen Riesenbecher.

Dort ein Herz von einem Pfeil durchschnitten:
„Hedewig“ steht auf des Bolzes Mitten;
Dicht daneben schrieb ein Fahrtgenosse
Gut lateinisch eine derbe Posse –

Dann in des Kastelles tiefem Schatten
Warfen sich die Schüler auf die Matten,
Leerten einen Humpen und von dannen
Pilgerten sie singend durch die Tannen.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Alte Schrift von Conrad Ferdinand Meyer

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Alte Schrift“ von Conrad Ferdinand Meyer beschreibt die Erfahrung des lyrischen Ichs bei der Erkundung eines alten Turms, wahrscheinlich eines mittelalterlichen Gebäudes. Die zentrale Thematik ist die Vergänglichkeit des Lebens und die bleibende Präsenz der Vergangenheit, die in den Inschriften und Hinterlassenschaften der Bewohner des Turms zum Ausdruck kommt. Der Dichter fängt die Atmosphäre der Stille und des Verfalls ein, während er durch die Überreste der Vergangenheit wandert.

Die ersten beiden Strophen etablieren den Schauplatz und die Stimmung des Gedichts. Das lyrische Ich wird von der Abenddämmerung verlockt, den Turm zu besteigen, und trifft auf verfallene Wendeltreppen und alte Inschriften. Diese Inschriften, die „alte Namen“ und „Sprüche“ enthalten, repräsentieren die Spuren der Menschen, die einst den Turm bewohnten. Der Kontrast zwischen der erhabenen Natur, die in der „blauen“ Ferne gesehen wird, und dem Verfall des Turms selbst deutet auf die Vergänglichkeit menschlicher Bemühungen hin.

Die dritte und vierte Strophe vertiefen die Thematik der Vergänglichkeit und der Überwindung von Zeit und Raum durch die bewahrten Botschaften. Die „Wanderstäbe“ und „leichten Mäntel“ der einstigen Bewohner sind zerfallen, doch ihre „Sprüche“ bleiben erhalten. Diese Überreste sind nicht nur greifbare Beweise für ihre Existenz, sondern auch ein Zeugnis für die vielfältigen Aspekte des Lebens, die im Turm einst stattfanden. Das Gedicht enthüllt eine Bandbreite an menschlichen Erfahrungen, von frommer Ehrfurcht („Gott hab ich in der Natur bewundert!“) bis hin zu weltlicher Freude („Gaudeamus!“) und Liebesbekenntnissen („Hedewig“).

Die letzten beiden Strophen beschreiben das Leben der Menschen, die diesen Ort einst belebten: Gelehrte, Liebende und Studenten, die ihren Freuden und Sorgen nachgingen. Die bildhafte Darstellung von „Riesenbechern“, „einem Pfeil durchschnittenen Herz“ und „Schülern auf Matten“ erweckt die Vergangenheit zum Leben und unterstreicht die Vielseitigkeit und den Reichtum menschlicher Erfahrungen. Indem Meyer die Inschriften und die verschiedenen Erfahrungen der Turmbewohner aufgreift, betont er die universelle Natur menschlicher Emotionen und die anhaltende Kraft der Erinnerung, die trotz des Verfalls der physischen Welt bestehen bleibt. Das Gedicht endet mit dem Bild von singenden Studenten, die aus dem Turm pilgern, was die Fortsetzung des Lebens trotz des Verfalls symbolisiert.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.