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Geisterschau

Von

Gleichwie an des Ades Thor
Wagend sich Odysseus setzte,
Die Gestorbenen beschwor,
Und mit Widderblut sie letzte;

Daß für das ersehnte Naß
Jeder seinen Spruch ihm gebe,
Daß zumal Teiresias
Ihm der Zukunft Schleier hebe:

So auch oft an dem Gestad
Meines Erebos, des Meeres,
Sitz´ ich, der Laertiad´
Eines luft´gen Todtenheeres.

Aber nicht durch Blut und Wein,
Ird´schen Stoff, bin ich ihr Meister;
Kraft des Willens sind sie mein:
Nur der Geist beschwört die Geister!

Aus des Geistes Tiefen quillt,
Was das Aug´ als Geister schauet;
Aus mir selber, kühn und wild,
Steigt empor, davor mir grauet.

Siehe, roth vom eignen Blut,
Kommen sie herangezogen,
Seelen derer, so die Flut
In das Todtenreich gezogen;

Kön´ge, denen aus der Hand
Sie das goldne Scepter spülte;
Mädchen, denen sie entbrannt
In den todten Reizen wühlte;

Schiffer, denen hundert Jahr
Wellen schon den Schädel netzen –
Wende dich, du düstre Schaar,
Denn es fasset mich Entsetzen!

Weh´! was hab´ ich euch gestört,
Schlumm´rer auf dem Grund der Meere!
Weh´, wo ist des Griechen Schwert,
Daß ich eurem Zürnen wehre!

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Gedicht: Geisterschau von Ferdinand Freiligrath

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Geisterschau“ von Ferdinand Freiligrath beschreibt eine surreale Szene der Geisterbeschwörung, in der der Dichter, wie Odysseus, in die Unterwelt blickt. Im Gegensatz zu Odysseus, der die Geister durch Opfer von Tierblut herbeiruft, beschwört der Dichter die Geister mit der „Kraft des Willens“, da „nur der Geist die Geister beschwört!“. Das Gedicht ist eine Auseinandersetzung mit den Tiefen des eigenen Bewusstseins und den Ängsten, die aus ihm emporsteigen.

Die Geister, die erscheinen, sind vielfältig und repräsentieren die Schrecken des Meeres und des Todes. Sie sind nicht nur mythologische Gestalten, sondern auch reale Opfer der See, wie Könige, Mädchen und Seeleute. Das Gedicht erzeugt eine beklemmende Atmosphäre des Grauens und der Verzweiflung, indem es die Geister als eine „düstre Schar“ darstellt, die vom Dichter gefürchtet wird. Die Bilder von ertrunkenen Seelen, die aus der Tiefe auftauchen, erzeugen ein Gefühl der Unheimlichkeit und des Entsetzens.

Der Dichter identifiziert sich mit Odysseus, doch erkennt er auch die Unterschiede. Er ist nicht in der Lage, die Geister durch Opfer zu kontrollieren oder zu besänftigen. Seine Macht liegt in seinem eigenen Geist, aber dieser Geist wird gleichzeitig zur Quelle seiner Ängste. Die Zeilen „Aus des Geistes Tiefen quillt, / Was das Aug‘ als Geister schauet; / Aus mir selber, kühn und wild, / Steigt empor, davor mir grauet.“ verdeutlichen diese innere Zerrissenheit und die Erkenntnis, dass die Geisterprojektionen der eigenen Psyche sind.

Der Höhepunkt des Gedichts ist die Erkenntnis des Dichters über die eigene Ohnmacht und die daraus resultierende Furcht. Er fragt sich, was er getan hat, um die Toten zu stören, und sehnt sich nach dem Schwert des griechischen Helden, um sich gegen die Geister zu verteidigen. Dies verdeutlicht das Gefühl der Hilflosigkeit und die Konfrontation mit den eigenen inneren Dämonen, die im Laufe der Geschichte des Gedichts aufgebaut wird. Freiligraths „Geisterschau“ ist somit eine poetische Reise in die Tiefen des menschlichen Geistes und eine Auseinandersetzung mit den Abgründen der Seele.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.