Schlaf-wach
Zum Schlag der Nachtuhr schwingt mein Blut das Pendel.
Ich liege ausgereckt.
Und warte atmend. Stunden rauschen auf.
Und jede Stunde hält ein kreisendes Licht.
Ein tiefbedeckter Gang zeigt in die Ferne,
vom Stundenlicht bedämmert.
Mein Auge starrt beglänzt.
Nachthelle Stunden!
Ihr könntet schaukelnde Schmetterlinge sein,
maibunt bemustert und Pfauenaug-gefiedert.
Ihr könntet summen, getragen auf Akkorden,
Dom-hallend, weit durch Türen, Läden und Stille,
herschwingende, versponnene Musik.
Die Nacht ist bunt und glücklich.
Vor meinen Augen baut sie ein taumelndes Kugelspiel aus Glaskugeln.
Mit weichen Glöckchen macht sie ein Ohrengeklingel.
Dann zupft sie hoch von wasserrauschenden Bäumen
– das wogt und fächert –
viel erdbeergroße rote Beeren herab.
Sie spielt damit umher und schnellt sie und fängt sie
und singt verweht einen Kinderreim.
Und nimmt sie zusammen und reiht sie und schwingt sie
im Kreis bunt rund
und wirft sie um meinen Mund.
Rotglühend brennt ein lutschend-süßer Kuß!
Die Nacht ist bunt und zeitlos glücklich.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Schlaf-wach“ von Ernst Wilhelm Lotz beschreibt eine subjektive Erfahrung des Übergangs von Schlaf zu Wachsein, geprägt von einer intensiven Wahrnehmung der Nacht und ihrer sinnlichen Qualitäten. Das lyrische Ich liegt im Bett, wartet auf das Vergehen der Stunden und wird Zeuge eines lebendigen, fast traumhaften Geschehens. Die Verwendung von Bildern wie „kreisendes Licht“, „tiefbedeckter Gang“ und „Stundenlicht bedämmert“ deutet auf eine surreale, fast halluzinatorische Atmosphäre hin, die den Zustand zwischen Schlaf und Wachsein widerspiegelt.
Im Zentrum des Gedichts steht die Personifizierung der Nacht, die als aktiver Akteur dargestellt wird. Die Nacht wird als Wesen beschrieben, das „schaukelnde Schmetterlinge sein“ könnte, „summen“ und „Musik“ erschaffen kann. Sie „baut ein taumelndes Kugelspiel aus Glaskugeln“, „zupft … Beeren herab“ und „spielt damit umher“. Diese aktiven Verben und lebendigen Bilder verleihen der Nacht eine fast kindliche Unbeschwertheit und Freude, wodurch die gesamte Szene eine spielerische und unbeschwerte Qualität erhält. Die Nacht wird so zum Schöpfer von sinnlichen Eindrücken, die das lyrische Ich umgeben.
Die Farbsymbolik spielt eine wichtige Rolle in der Gestaltung der Atmosphäre. Die „maibunt bemusterten“ Schmetterlinge, die „erdbeergroßen roten Beeren“ und der „rotglühende … Kuß“ sind Beispiele für die Verwendung von Farben, die Sinnlichkeit und Freude vermitteln. Rot, als Farbe der Leidenschaft und der Fruchtbarkeit, dominiert die Szene und unterstreicht die Intensität der Erfahrung. Die „bunte“ Nacht wird als ein Reich der Sinne dargestellt, in dem das lyrische Ich vollkommen aufgeht.
Das Gedicht endet mit einem „lutschend-süßen Kuß“, der die Erfahrung des lyrischen Ichs kulminiert. Dieser Kuss ist nicht nur ein sinnlicher Akt, sondern auch ein Symbol für die Verschmelzung mit der Nacht, dem Zustand des Schlafes oder der Träume. Die Wiederholung des Satzes „Die Nacht ist bunt und zeitlos glücklich“ am Ende des Gedichts verstärkt den Eindruck einer intensiven, erfüllenden Erfahrung, die die Grenzen von Zeit und Raum überschreitet. Das Gedicht feiert somit die Schönheit und die Geheimnisse der Nacht, sowie die transformative Kraft der Erfahrung zwischen Schlaf und Wachsein.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.