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Die Befreiung

Von

Da seine Gnade mir die Binde von den Augen schloß,

Troff Licht wie Regen brennend. Land lag da und blühte.

Ich schritt so wie im Tanz. Und was davor mich wie mit Knebeln mühte,

Fiel ab und war von mir getan. Mich überfloß

Das Gnadenwunder, unaufhörlich quellend – so wie junger Wein

Im Herbst, wenn sie auf allen goldnen Hügeln keltern,

Und rings die Hänge nieder Saft aufspritzt und flammt in den Behältern,

Flammte vor mir die Welt und ward nun ganz erst mein

Und meines Odems Odem. Jedes Ding war neu und gieng

In tiefer Herzenswallung mir entgegen, sich zu schenken, so wie am Altar,

Des Opfers freudig, ganz in Glück gekleidet. Und in jedem war

Der Gott. Und keines war, darauf nicht seine Güte so wie Hauch um reife Früchte hieng.

Mir aber brach die Liebe alle Türen auf, die Hochmut mir gesperrt:

In Not Gescharte, Bettler, Säufer, Dirnen und Verbannte

Wurden mein lieb Geschwister. Meine Demut kniete vor dem Licht, das fern in ihren Augen brannte,

Und ihre rauhen Stimmen schlossen sich zum himmlischen Konzert.

Ich selbst war dunkel ihrem Leid und ihrer Lust vermengt – Welle im Chor

Auffahrender Choräle. Meine Seele war die kleine Glocke, die im Dorfkirchhimmel der Gebetehieng

Und selig läutend in dem Überschwang der Stimmen sich verlor

Und ausgeschüttet in dem Tausendfachen untergieng.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Die Befreiung von Ernst Stadler

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Befreiung“ von Ernst Stadler beschreibt einen tiefgreifenden spirituellen oder emotionalen Wandel, der das lyrische Ich von inneren Fesseln befreit. Die Eröffnung mit dem Bild der „Binde von den Augen“ deutet auf eine vorherige Phase der Unwissenheit oder Verblendung hin. Durch das „Gnadenwunder“ wird dem Ich eine neue Sicht auf die Welt ermöglicht, ein Zustand, der als „Licht wie Regen brennend“ erfahrbar wird. Das Gedicht feiert die Schönheit und Fülle der Welt, die nun in all ihren Facetten wahrgenommen wird und in den Besitz des Ichs übergeht. Die metaphorische Darstellung der Welt als „junger Wein“ unterstreicht die Lebendigkeit und den Überfluss der neu gewonnenen Erfahrung.

Der zweite Teil des Gedichts konzentriert sich auf die soziale Dimension der Befreiung. Die Liebe, die „alle Türen auf[bricht]“, die der Hochmut zuvor verschlossen hatte, führt zu einer radikalen Umwertung der Werte. Menschen, die zuvor am Rande der Gesellschaft standen – „Not Gescharte, Bettler, Säufer, Dirnen und Verbannte“ – werden zu „lieb Geschwister[n]“. Das lyrische Ich empfindet eine tiefe Verbundenheit mit diesen Menschen und erkennt in ihnen die Präsenz des Göttlichen. Die Demut vor dem „Licht, das fern in ihren Augen brannte“ verdeutlicht die neue Perspektive des Ichs, das sich nun selbst als Teil eines größeren Ganzen versteht.

Die Metaphorik des Chors und der kleinen Glocke im letzten Teil verstärkt den Eindruck der Auflösung des individuellen Ichs in einem kollektiven Bewusstsein. Die Seele des lyrischen Ichs verschmilzt mit den Stimmen des Chors, die als „himmlisches Konzert“ beschrieben werden. Die „kleine Glocke“ symbolisiert das Individuum, das sich im Überschwang der Gemeinschaft verliert und in der Fülle des Tausendfachen aufgeht. Das Gedicht feiert somit nicht nur die individuelle Befreiung, sondern auch die Erfahrung der Einheit mit der Welt und der Menschheit.

Die sprachliche Gestaltung des Gedichts, mit ihren kraftvollen Bildern und Metaphern, unterstützt die emotionale Intensität des Erlebten. Die Verwendung von Wörtern wie „brennend“, „flammt“, „Opfers“, und „Gnadenwunder“ verstärkt den Eindruck einer tiefgreifenden Transformation. Der Rhythmus und die Reimstruktur tragen zur musikalischen Qualität des Gedichts bei und verstärken den feierlichen Charakter der Botschaft. Stadler verwendet hier eine Sprache, die sowohl unmittelbar erfahrbar als auch metaphysisch aufgeladen ist, um die Erfahrung der Befreiung und des Einsseins mit der Welt zu vermitteln.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.