Das bittere Trünklein
Ein betrogen Mägdlein irrt im Walde,
Flieht den harten Tag und sucht das Dunkel,
Wirft auf eine Felsenbank sich nieder
Und beginnt zu weinen unersättlich.
In den wettermürben Stein des Felsens
Ist gegraben eine kleine Schale –
Da das Mägdlein sich erhebt zu wandern,
Bleibt die Schale voller bittrer Zähren.
Abends kommt ein Vöglein hergeflattert,
Aus gewohntem Becherlein zu trinken,
Wo sich ihm das Himmelswasser sammelt
Schluckt und schüttelt sich und fliegt von hinnen.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Das bittere Trünklein“ von Conrad Ferdinand Meyer zeichnet das Bild einer tiefen Trauer und Enttäuschung, die von einer jungen Frau im Wald erlebt wird. Die Dichtung beginnt mit der Beschreibung eines „betrogenen Mägdleins“, das in die Dunkelheit flieht und sich auf einer Felsenbank niederlässt, um unaufhörlich zu weinen. Diese Eröffnungszeilen etablieren sofort eine Atmosphäre der Einsamkeit, des Schmerzes und des Verlustes, die das gesamte Gedicht prägt. Die Wahl des Wortes „betrogen“ deutet auf Verrat und eine zerstörte Hoffnung hin, wodurch die Tiefe der Verletzung der Protagonistin verdeutlicht wird.
Der zweite Teil des Gedichts wendet sich der Natur zu und beschreibt eine kleine, in den Felsen gegrabene Schale, die sich mit den Tränen des Mädchens füllt. Dieser Abschnitt dient als Metapher für die Unendlichkeit des Leids. Die Tränen, die die Schale füllen, stehen für die anhaltende Traurigkeit und die Unfähigkeit, den Schmerz zu überwinden. Indem Meyer das Mädchen mit der Natur verbindet, verdeutlicht er die universelle Natur des Leids und die Art und Weise, wie es sich in der Welt manifestieren kann.
Im letzten Teil erscheint ein Vöglein, das aus der Schale trinkt, die sich mit den Tränen gefüllt hat. Das Vöglein schluckt, schüttelt sich und fliegt davon. Diese Szene könnte als ein Zeichen der Vergänglichkeit des Schmerzes interpretiert werden. Das Vöglein, das das bittere Wasser trinkt, ist zwar kurzfristig von dem Geschmack betroffen, fliegt aber schließlich weiter, was darauf hindeutet, dass das Leben weitergeht und die Trauer nicht dauerhaft ist. Es könnte auch eine Kritik an der Oberflächlichkeit des Lebens sein: Das Vöglein ist kurzzeitig von dem Bitteren betroffen, versteht aber die Tiefe des Leids nicht wirklich.
Meyer nutzt einfache, aber eindringliche Sprache und Bilder, um die emotionale Intensität der Geschichte zu vermitteln. Der Wald dient als Kulisse für die Einsamkeit des Mädchens, während die Felsen und die Schale die Beständigkeit und die Unveränderlichkeit ihres Schmerzes symbolisieren. Das Gedicht ist eine Meditation über Verlust, Trauer und die Suche nach Trost, wobei die Natur sowohl als Spiegelbild des menschlichen Leids als auch als mögliche Quelle der Erlösung dient.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.