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Allerbarmen

Von

An dem Bauernhaus vorüber
Schritt ich eilig, weil mir grauste,
Weil im dumpfen Hof ein trüber,
Brütender Kretine hauste.

Schaudernd warf ich einen halben
Blick in seinen feuchten Kerker –
Eben war die Zeit der Schwalben,
Wo sie baun an Dach und Erker.

Den Enterbten sah ich kauern,
Über seiner Lagerstätte
Blitzten Schwalben um die Mauern,
Nester bauend um die Wette.

Der erloschne Blick erfreute
Sich, in einem kleinen blauen
Raum das Werk der Schwalben heute,
Dieses kluge Werk zu schauen.

Blitzend kreiste das Geschwirre
An dem engen Horizonte,
Und das Lachen klang, das irre,
Drin sich doch der Himmel sonnte.

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Gedicht: Allerbarmen von Conrad Ferdinand Meyer

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Allerbarmen“ von Conrad Ferdinand Meyer beschreibt eine Begegnung des lyrischen Ichs mit einem Kretin, der von den Schwalben und ihren Nestern umgeben ist. Die anfängliche Abneigung des Ichs, die durch das „Grausen“ vor dem Kretin zum Ausdruck kommt, wandelt sich im Laufe des Gedichts in eine Art stille Bewunderung, die durch die Beobachtung der Vögel und die Reaktion des Behinderten ausgelöst wird. Die Szenerie wird in einer düsteren, fast beklemmenden Atmosphäre geschildert, die durch Begriffe wie „dumpfer Hof“ und „feuchter Kerker“ geprägt ist.

Die Schwalben, die im Gedicht eine zentrale Rolle spielen, verkörpern Leben, Aktivität und Schönheit. Ihr geschäftiges Treiben und das Bauen ihrer Nester stehen in starkem Kontrast zu der Isolation und dem Leid des Kretins. Die Schwalben „blitzten“ und „kreisten“, was ihre Lebendigkeit betont. Der Kretin, der in seinem „erloschnen Blick“ das Treiben der Schwalben beobachtet, findet trotz seiner physischen und geistigen Einschränkungen Trost und Freude in der Natur, was einen Hoffnungsschimmer in die trübe Szenerie bringt.

Die Gegenüberstellung von Abneigung und Anteilnahme, von Dunkelheit und Licht, von Leid und Freude erzeugt einen starken emotionalen Kontrast. Das „irren Lachen“ des Kretins, in dem sich doch der „Himmel sonnte“, ist ein zentrales Bild. Es zeigt, dass selbst in einem scheinbar hoffnungslosen Zustand Schönheit und Freude erfahren werden können. Die Schwalben, als Sinnbild der Schöpfung, schaffen im engen Raum des Kerker ein kleines Paradies und lenken das Augenmerk auf die Möglichkeit des Trostes, die die Natur bereitstellt.

Letztlich ist „Allerbarmen“ ein Gedicht über die Fähigkeit zur Empathie und die Suche nach dem Schönen, auch in den widrigsten Umständen. Das lyrische Ich überwindet seine anfängliche Abneigung und erkennt die Menschlichkeit des Kretins an, der inmitten seines Leids Freude und Trost in der Natur findet. Das Gedicht hinterfragt die menschliche Wahrnehmung und regt dazu an, über Vorurteile hinauszusehen, um die Schönheit und das Mitgefühl zu finden, die oft unerwartet erscheinen.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.