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Nach dem 88sten Psalm

Von

Jehovah, Gott mein Heil! ich schreye
Im Morgennebel zu dir auf!
Und kommt die Mitternacht, aufs neue
Flammt mein Gebet zu dir hinauf.
Ach, laß dies Schreyen zu dir kommen
Und neig herab zu mir dein Ohr.
Steigt nur des Heiligen, des Frommen,
Nicht auch des Büßers Flehn empor?

Voll Jammers, Gott, ist meine Seele,
Mein weggeworfnes Leben schwebt
Nah′ am Geklüft der Schauerhöhle,
Wo der Verdammten Schatten bebt.
Geachtet bin ich, gleich den Todten,
Wie ein Erschlagner lieg′ ich hier
Verlassen, hülflos auf dem Boden,
Im Felsengrabe Gott vor dir!

In Tiefen hast du mich verschlossen,
Und Finsterniß liegt um mich her.
Dein Feuergrimm herabgegossen
Stürzt auf mich wie ein Flammenmeer.
Fern sind die Trauten meines Herzens,
Ich bin ihr Scheusal, bin ihr Greul;
Sie scheu′n den Anblick meines Schmerzens
Und fliehn vor meinem Angstgeheul.

Nicht Weib und Mutter hört mich bangen
Verlaßnen, der so einsam trau′rt.
Gefangen bin ich, schwer gefangen,
In öde Trümmer eingemau′rt.
Ach, ohne Zeugen muß ich trauern,
Dem Fels nur klag′ ich meinen Schmerz;
Doch er bleibt stumm, und seine Mauern
Sind hart wie ein Tyrannenherz.

Was frommen meine goldnen Jahre,
Des vollen Lebens Sommergluth,
Grau macht der Kummer meine Haare,
Zur faulen Lache wird mein Blut.
Sind nicht von langem, heißen Weinen
Die Wangen wund? die Augen roth?
Starrt nicht das Mark in meinen Beinen?
Und bin ich nicht ein Bild vom Tod?

Vergebens breit′ ich meine Arme
Gen Himmel, rufe: Vaterherz,
Wo ist dein Mitleid! ach, erbarme
Dich über mich! Bist du von Erz?
O Herr, willst du nur deine Wunder
An Schädeln und Gerippen thun?
Dringt auch der Allmacht Arm hinunter
Ins Nachtthal, wo die Seelen ruhn?

Wird dieser Staubleib auferstehen,
Hat ihn dein Sturmwind, Gott, verstreut?
Wird dann mein Aug′ gen Himmel sehen?
Schlägt dann dies Herz voll Dankbarkeit?
Wird man in tiefen Gräbern sagen,
Wie gut du seyst? und wird im Land,
Wo Schlang′ und Würmer uns benagen,
An Todten deine Treu′ erkannt?

Jauchzt man in schauervollen Nächten,
In deine Wunder, Gott, versenkt?
Spricht man von dir und deinen Rechten
Im Lande, da man nichts gedenkt?
Hier will ich, Schöpfer, zu dir beten,
Noch hier, so lang dies Herz noch klopft,
Bis mir der Tod nach tausend Nöthen,
Des Lebens goldnen Quell verstopft.

Doch was verschmähst du meine Seele?
Was kehrst du von mir dein Gesicht?
Siehst mich im Dampf der Kerkerhöhle,
Hörst mein Gebet im Staube nicht?
Elend und Ohnmacht drückt mich nieder,
Und doch stößt mich dein Fuß zurück.
Dein Schrecken, Gott, zermalmt die Glieder
Und die Verzweiflung preßt den Blick.

Dein Grimm fährt über mich wie Wagen
Und schneidet Furchen in mein Herz.
Gott, deine ausgegoßne Plagen
Sind brennend, wie der Hölle Schmerz.
Sie fluthen um mich her, wie Wogen,
Umbraußen mich, bis ihre Wuth
Im Strudel mich hinabgezogen
Und mich ersäuft die wilde Fluth.

Vergebens strecken nach dem Freunde
Die müdgerungnen Arme sich;
Vergebens ächz′ ich: komm, beweinte
Verlaßne Gattin, tröste mich!
Kommt Kinder, ehmals mein Vergnügen?
Seht euren armen Vater hier! –
Vergebens! – meine Freunde liegen
Wie ein bewölktes Land vor mir.

Verlassen soll ich von den Meinen,
Soll′ einsam in der Mitternacht
In meiner Jammergrotte weinen,
Mit Elend ringen, ohne Macht.
Nur du kannst meine Seufzer stillen,
O Gott, drum schrey′- ich auch empor:
Erbarme dich um Jesu willen
Und neig′ zu meinem Schrey′n dein Ohr.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Nach dem 88sten Psalm von Christian Friedrich Daniel Schubart

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Nach dem 88sten Psalm“ von Christian Friedrich Daniel Schubart ist eine eindringliche Klage, die tiefes Leid und Verzweiflung zum Ausdruck bringt. Es ist ein persönliches Gebet, in dem der Dichter seinen Schmerz, seine Einsamkeit und seine Hoffnungslosigkeit vor Gott ausbreitet. Die Verwendung des Psalms als Vorbild deutet auf eine Tradition der Klage und des Bittgebets hin, die bereits in der Bibel etabliert ist.

Die zentrale Metapher des Gedichts ist die des Kerkers oder Grabes. Der Dichter fühlt sich von Gott verlassen und in tiefster Dunkelheit eingesperrt. Er beschreibt sich als tot, verlassen und von seinen Mitmenschen verstoßen. Die Natur wird als feindlich dargestellt, und die körperlichen Symptome des Kummers – graue Haare, wunde Wangen, starres Mark – unterstreichen die physische und emotionale Zerstörung, die der Dichter durchlebt. Die wiederholte Anrufung Gottes, verbunden mit Fragen nach Gottes Barmherzigkeit und Allmacht, spiegelt den inneren Kampf zwischen Glaube und Verzweiflung wider.

Das Gedicht ist durchzogen von einem Wechselspiel zwischen Anklage und Bittgebet. Der Dichter wirft Gott vor, ihn zu verlassen und mit Leid zu strafen. Gleichzeitig fleht er um Gnade, um Erlösung und um die Zuwendung, die er so dringend benötigt. Die wiederholten Fragen, ob Gott sein Gebet erhört, ob er seine Wunder an den Leblosen vollbringen wird, zeugen von einem tiefen Zweifel, der die Hoffnungslosigkeit des Dichters nur noch verstärkt. Die Referenz auf Jesus am Ende des Gedichts deutet auf die Hoffnung auf Erlösung durch den Glauben hin.

Die Sprache des Gedichts ist pathetisch und bildreich. Schubart verwendet starke Metaphern und Vergleiche, um das Ausmaß des Leids zu vermitteln. Das „Flammenmeer“, die „Trümmer“, die „wilden Fluten“ – all diese Bilder verstärken das Gefühl der Überwältigung und des Untergangs. Die Verwendung von rhetorischen Fragen, Wiederholungen und Ausrufen unterstreicht die Intensität der Gefühle und macht das Gedicht zu einem bewegenden Zeugnis menschlicher Not und der Suche nach Trost in der göttlichen Kraft.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Gedicht eine erschütternde Darstellung menschlicher Verzweiflung, aber auch ein leidenschaftliches Bekenntnis zum Glauben darstellt. Es ist ein Gebet, das aus der tiefsten Not heraus gesprochen wird und in dem der Dichter seinen Schmerz, seine Einsamkeit und seine Hoffnungslosigkeit vor Gott ausbreitet, während er gleichzeitig um Trost und Erlösung fleht. Die kraftvollen Bilder und die emotionale Intensität machen dieses Gedicht zu einem eindringlichen Zeugnis der menschlichen Seele, die nach Sinn und Halt in einer scheinbar ausweglosen Situation sucht.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.