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Ich seh die Welt, du siehst die Welt

Von

Ich seh die Welt, du siehst die Welt,
du nennst es Prosa, ich Gedicht,
was mir gefällt,
gefällt dir nicht,
und aus dem nämlichen Gesicht
errätst du Freude und ich Trauer,
du nennst es süß, ich nenn es sauer …
wir fangen nun an, uns drüber zu streiten
und alles uns gründlich zu verleiden.

Ein Dritter kommt dazu und lacht:
Mein Gott, gehabt euch nicht so töricht!
im Winter, Kinder, ist es Winter,
und wenn der Mai kommt, wird es Frühling,
und im Oktober nennt man’s Herbst …
ich meinerseits freu mich nicht minder
an Winter, als an Mai und Herbst.

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Gedicht: Ich seh die Welt, du siehst die Welt von Cäsar Flaischlen

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Ich seh die Welt, du siehst die Welt“ von Cäsar Flaischlen ist eine pointierte Auseinandersetzung mit der Subjektivität der Wahrnehmung und dem daraus resultierenden Konfliktpotenzial zwischen Individuen. Das lyrische Ich stellt zunächst fest, dass die Welt, obwohl von ihm und einer zweiten Person wahrgenommen, auf diametral entgegengesetzte Weise interpretiert wird. Während der eine die Welt als „Prosa“ und den anderen als „Gedicht“ wahrnimmt, werden die gleichen Erfahrungen und Gefühle gegensätzlich bewertet: Was dem einen Freude bereitet, löst beim anderen Trauer aus, was der eine als süß empfindet, schmeckt dem anderen sauer. Diese Divergenz führt unweigerlich zu Streitigkeiten und der gegenseitigen Verärgerung, ein Ausdruck der Unfähigkeit, die Welt aus der Perspektive des anderen zu verstehen und zu akzeptieren.

Die zweite Strophe führt eine dritte, weisere Instanz ein, die die vorherrschende Polarisierung hinterfragt und eine erfrischende Perspektive einnimmt. Der „Dritte“ lacht über die unnötige Auseinandersetzung und plädiert für eine pragmatische Akzeptanz der Gegebenheiten. Er erkennt, dass Jahreszeiten wie Winter, Frühling und Herbst unweigerlich aufeinander folgen, und dass es keinen Grund gibt, sich über diese natürliche Ordnung zu erregen. Seine Haltung ist geprägt von Gelassenheit und der Fähigkeit, die Vielfalt der Welt zu schätzen, ohne sich von persönlichen Vorlieben oder Abneigungen beirren zu lassen.

Der Kern des Gedichts liegt in der Kritik an der menschlichen Tendenz, die eigene Wahrnehmung als die einzig wahre zu betrachten und andere Meinungen zu verurteilen. Flaischlen zeigt, wie diese subjektive Sichtweise zu unnötigen Konflikten und gegenseitiger Ablehnung führen kann. Die Verwendung von einfachen, volkstümlichen Sprache und Alltagssituationen verstärkt die zugrundeliegende Botschaft und macht sie für den Leser unmittelbar verständlich. Die Metaphern von „Prosa“ und „Gedicht“, „süß“ und „sauer“ verdeutlichen die unterschiedlichen Interpretationen derselben Realität, während die Jahreszeiten als universelle Konstanten dienen, die über individuelle Befindlichkeiten hinausgehen.

Die Schlusszeilen des „Dritten“ enthüllen die wahre Weisheit des Gedichts: Die Fähigkeit, die Welt in ihrer Gesamtheit anzunehmen und sich an allen Facetten, sei es Winter oder Frühling, zu erfreuen. Dies ist ein Plädoyer für Toleranz, Akzeptanz und die Überwindung des Egozentrismus. Das Gedicht endet mit einer positiven Note und ermutigt dazu, die eigene Perspektive zu erweitern und die Vielfalt der Welt unvoreingenommen zu betrachten.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.