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Am vierten Sonntage im Advent

Von

Ev.: Vom Zeugnisse Johannes.

Sie fragten: »Wer bist du?« –
und er bekannte und leugnete nicht:
„Ich bin eine Stimme des Rufenden in der Wüste. –
Ich taufe euch mit Wasser, aber er steht mitten unter euch,
den ihr nicht kennt.“

Fragst du mich, wer ich bin? Ich berg′ es nicht:
Ein Wesen bin ich sonder Farb′ und Licht,
Schau mich nicht an; dann wendet sich dein Sinn;
Doch höre! höre! höre! denn ich bin
Des Rufers in der Wüste Stimme.

In Nächten voller Pein kam mir das Wort
Von ihm, der Balsam sät an Sumpfes Bord,
Im Skorpion der Heilung Öl gelegt,
Dem auch der wilde Dorn die Rose trägt,
Das faule Holz entzündet sein Geglimme.

So senke deine Augen und vernimm
Von seinem Herold deines Herren Grimm,
Und seine Gnade sei dir auch bekannt,
Der Wunde Heil, so wie der schwarze Brand,
Wenn seiner Adern Bluten hemmt der Schlimme.

Merk au! ich weiß es, daß in härtster Brust
Doch schlummert das Gewissen unbewußt;
Merk auf, wenn es erwacht, und seinen Schrei
Ersticke nicht, wie Mütter sonder Treu′
Des Bastards Wimmern und sein matt Gekrümme!

Ich weiß es auch, daß in der ganzen Welt
Dem Teufel die Altäre sind gestellt,
Daß mancher kniet, demütig nicht gebeugt,
Und überm Sumpfe, engelgleich und leicht
Der weiße Lotos wie ein Kindlein schwimme.

Es tobt des tollen Strudels Ungestüm
Und zitternd fliehen wir das Ungetüm,
Still liegt der Sumpf und lauert wie ein Dieb,
Wir pflücken Blumen und es ist uns lieb
Zu schaun des Irrlichts tanzendes Geflimme.

Drum nicht vor dem Verruchten sei gewarnt;
Doch wenn dich süßer Unschuld Schein umgarnt,
Dann lächelt der Vampyr, dann fahr zurück
Und senke tief, o tief in dich den Blick,
Ob leise quellend die Verwesung klimme!

Ja, wo dein Aug′ sich schaudernd wenden mag,
Da bist du sicher mindstens diesen Tag,
Doch gift′ger öfters ist ein Druck der Hand,
Die weiche Träne und der stille Brand,
Den Lorbeer treibend aus Vulkanes Grimme.

Ich bin ein Hauch nur, achtet nicht wie Tand
Mein schwaches Wehn, um des der mich gesandt.
Erwacht! erwacht! ihr steht in seinem Reich;
Denn sehet, er ist mitten unter euch,
Den ihr verkennt, und ich bin seine Stimme!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Am vierten Sonntage im Advent von Annette von Droste-Hülshoff

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Am vierten Sonntage im Advent“ von Annette von Droste-Hülshoff ist eine tiefgründige Auseinandersetzung mit der Frage nach Identität, Wahrheit und der Beschaffenheit der menschlichen Seele. Es ist inspiriert vom Zeugnis Johannes des Täufers, der seine eigene Rolle als Vorläufer Christi betont und die Ankunft des Messias ankündigt. Droste-Hülshoff transponiert diese biblische Thematik in eine lyrische Reflexion über das Wesen des Glaubens, die Gefahr der Selbsttäuschung und die Notwendigkeit, sich der eigenen moralischen Verantwortung zu stellen.

Das Gedicht beginnt mit der direkten Frage nach der eigenen Identität, ähnlich wie Johannes der Täufer im Evangelium. Die Antwort ist jedoch vieldeutig und rätselhaft: Der Sprecher identifiziert sich als „Stimme des Rufenden in der Wüste“, ein Echo des Johannes, das auf eine Botschaft von Warnung und Verheißung hinweist. Die Metaphern, die verwendet werden, sind von großer Bildkraft. Es wird von Licht und Finsternis, von Wüsten und Sümpfen gesprochen, um die Zerrissenheit des menschlichen Zustands zu verdeutlichen. Das Gedicht beschreibt das Wirken des Rufers, der „Balsam sät an Sumpfes Bord“ und „dem auch der wilde Dorn die Rose trägt“. Diese Bilder deuten auf die Möglichkeit der Heilung und Erneuerung inmitten von Leid und Verderben hin.

Die zentralen Themen des Gedichts sind die Gefahr der Verblendung und die Notwendigkeit der Selbstreflexion. Droste-Hülshoff warnt vor den „Altären“ des Teufels, die in der Welt errichtet sind, und vor der Versuchung, sich von äußeren Scheinbildern täuschen zu lassen. Der „weiße Lotos“, der „engelgleich und leicht“ über dem Sumpf schwimmt, symbolisiert die trügerische Schönheit, die uns vom Weg abbringen kann. Die Zeilen „Drum nicht vor dem Verruchten sei gewarnt; / Doch wenn dich süßer Unschuld Schein umgarnt, / Dann lächelt der Vampyr“ verdeutlichen die Gefahr, die in der scheinbar harmlosen Unschuld verborgen liegt. Der Vampyr, ein Bild der heimtückischen Zerstörung, lauert im Verborgenen, bereit, seine Opfer zu verschlingen.

Die Strophen des Gedichts sind durchzogen von einer Mahnung zur Selbstprüfung. Der Leser wird aufgefordert, „tief in sich den Blick“ zu senken und die „Verwesung“ zu erkennen, die im eigenen Inneren vor sich geht. Die Autorin erinnert daran, dass die „gift’ger öfters ist ein Druck der Hand, / Die weiche Träne und der stille Brand“, also die subtilen Formen der Täuschung, oft gefährlicher sind als offene Bosheit. Am Ende des Gedichts wird die zentrale Botschaft wiederholt: „Erwacht! erwacht! ihr steht in seinem Reich; / Denn sehet, er ist mitten unter euch, / Den ihr verkennt, und ich bin seine Stimme!“. Hier wird die Anwesenheit des Göttlichen betont, das jedoch von den Menschen übersehen wird. Die Stimme des Sprechers, die an die Stimme des Johannes erinnert, dient als Weckruf, um die Leser auf ihre spirituelle Blindheit aufmerksam zu machen. Das Gedicht fordert somit eine bewusste Auseinandersetzung mit den eigenen Werten und eine kritische Prüfung der eigenen Existenz.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.