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An ihren verstorbenen Oheim

Von

Kommt heraufgestiegen aus dem Sande
Ihr Gebeine, die ihr in dem Lande
Meiner Jugend eure Ruhe habt!
Teurer Greis, belebe deine Glieder,
Und ihr Lippen redet einmal wieder,
Die ihr mir der Lehren Honig gabt!

Oder du, auf des Olympus Höhe
Weißer Schatten, siehe! wo ich gehe:
Hinter Rindern auf der Weide nicht!
Blick auf diese feinern Menschen nieder,
Alle reden deiner Nichte Lieder;
Hör auf ihr Gespräch, dein Lobgedicht!

Ewig grünen muß die breite Linde
Wo ich, gleich des besten Vaters Kinde,
Zärtlich dir an deinem Halse hing,
Wenn dich, müde von des Tages Länge,
Wie den Schnitter von der Arbeit Menge,
Wenn dich matt die Rasenbank empfing.

Unter jenem Dache grüner Blätter
Wiederholt ich von dem Gott der Götter
Zwanzig unverstandne Stellen dir!
Aus der Christen hochgehaltnem Buche
Sagt ich dir von manchem dunkeln Spruche,
Frommer Mann! und du erklärtest mir,

Gleich den Männern, die in schwarzen Röcken
Auf der hohen Kanzel uns entdecken,
Welcher Weg zum Leben richtig ist.
Wenn du von dem Fall und Gnadenbunde
Sagtest, o dann wurden deinem Munde
Alle Worte zärtlich aufgeküßt!

Du Bewohner einer Himmels-Sphäre!
Siehe, meiner Freuden stille Zähre
Fließet über meine Wangen oft.
Kannst du reden, teurer Schatten? sage,
Ob dein Herz für meine Lebenstage
Glück und Ehre dazumal gehofft,

Wenn mein Auge, liegend auf dem Blatte,
Täglich weisre Schriften vor sich hatte,
Wenn ich auf der Wiese Blümchen las,
Sie in meinen kleinen Händen brachte,
Sie zur Zierde deiner Haare machte
Und auf Rosen lächelnd bei dir saß?

Sei mir dreimal mehr mit Licht bekleidet,
Mit der Gottheit Blicken mehr geweidet
Als die andern Seelen um dich her!
Für die Tropfen alle, die mir werden
Aus dem Freuden-Becher hier auf Erden,
Tränke dich der Seligkeiten Meer!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: An ihren verstorbenen Oheim von Anna Louisa Karsch

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „An ihren verstorbenen Oheim“ von Anna Louisa Karsch ist eine ergreifende Elegie, die die tiefe Trauer und Sehnsucht der Dichterin nach ihrem verstorbenen Onkel zum Ausdruck bringt. Es ist ein intimer Dialog, der die Grenzen zwischen Leben und Tod, Diesseits und Jenseits, überwindet. Die Verwendung von direkten Anreden an den Verstorbenen („Kommt heraufgestiegen…“, „Teurer Greis…“) und die detaillierte Erinnerung an gemeinsame Erlebnisse lassen ein lebendiges Bild der innigen Beziehung entstehen.

Das Gedicht gliedert sich in mehrere thematische Abschnitte. Zunächst beschwört die Dichterin den Oheim, aus seinem Grab aufzusteigen, um an der Gegenwart teilzuhaben. Sie erinnert an die Lehren, die er ihr einst gab. Es folgt die Bitte, der Dichterin aus dem Jenseits heraus zuzusehen und an ihrem Leben teilzunehmen. Anschließend werden gemeinsame Erinnerungen wach, insbesondere die an idyllische Momente unter der Linde, wo sie ihm aus der Bibel vorlas. Der Fokus liegt hier auf dem Wissen und der väterlichen Fürsorge des Onkels, was das Gedicht zu einer Hommage an seinen Intellekt und seine Güte macht.

Besonders hervorzuheben ist der Kontrast zwischen der irdischen Welt und dem Himmel, in dem sich der Oheim nun befindet. Die Dichterin fragt nach seinem Empfinden für ihr irdisches Glück und ihre Hoffnungen. Die Tränen, die sie vergießt, symbolisieren die tiefe Trauer und die Sehnsucht nach ihm. Gleichzeitig zeigt das Gedicht eine tiefe Dankbarkeit für die gemeinsamen Erfahrungen, die sie verbinden. Das Sammeln von Blumen und das Vorlesen aus der Bibel sind Ausdruck der kindlichen Verehrung und der gegenseitigen Zuneigung.

Karschs Sprache ist geprägt von großer Emotionalität und einer einfachen, dennoch eindringlichen Bildsprache. Die Beschwörung des Verstorbenen, die detaillierten Erinnerungen und die Fragen an den Oheim erzeugen eine Atmosphäre der Intimität und des tiefen Verlustes. Die abschließenden Verse, in denen sie sich ein Meer der Seligkeit für ihn wünscht, unterstreichen die Liebe und den Respekt, die sie für ihren Onkel empfindet. Das Gedicht ist somit nicht nur eine Trauerbekundung, sondern auch ein Denkmal für die unvergessliche Beziehung zwischen der Dichterin und ihrem geliebten Oheim.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.