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Die Leidtragenden

Von

Aus der Gruft heraus im Grabeskleid,
Nach dem Garten wallt die todte Maid,
Den sie einst so liebevoll gepflegt,
Der wohl tief um sie jetzt Trauer trägt.

»Weiße Lilien, wie mein Herz so rein,
Weinen wohl ums todte Schwesterlein?«
Ach, die Lilien weinen nimmermehr,
Nein, ihr Kelch ist licht und thränenleer.

»Meine Rosen, die ich so geliebt,
Wohl seid ihr erblaßt und tief betrübt?«
Ach, nicht färbte Gram die Rosen bleich,
Nein, sie glühen fort gar wonnereich.

»Nachtigall, du meines Herzens Herz,
Wohl ist deine Brust jetzt stumm vor Schmerz?«
Ach, nicht ist verstummt die Nachtigall,
Durch die Wipfel schmettert laut ihr Schall.

»Blüthenbaum, du neigst dein trauernd Haupt,
Weil du nun der Pflegerin beraubt?«
Ach, nicht ist des Baumes Haupt geneigt,
Sondern freudig in die Wolken steigt.

Einen Jüngling, den sie nie gesehn,
Sieht sie jetzt bei ihren Blumen stehn.
»Fremdling, sprich, was führt zu dieser Zeit
In den Garten dich der todten Maid?«

»Statt der Rosen bin ich gramesbleich,
Statt der Nachtigall so schmerzenreich,
Statt des Baums neigt meine Stirne sich,
Statt der Lilien wein’ ich still um dich.«

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Gedicht: Die Leidtragenden von Anastasius Grün

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Leidtragenden“ von Anastasius Grün ist eine bewegende Auseinandersetzung mit der Thematik von Trauer, Verlust und der oft unterschiedlichen Art und Weise, wie Lebende und Tote mit diesen Erfahrungen umgehen. Das Gedicht beginnt mit dem Bild einer toten Maid, die aus ihrem Grab aufsteigt und ihren geliebten Garten besucht. Sie erwartet, dass die Natur, die sie einst pflegte, nun ihren Schmerz teilt und um sie trauert. Die Frage nach dem Mitgefühl der Lilien, Rosen, der Nachtigall und des Blühtenbaums bildet den Kern des Gedichts.

In jedem der folgenden Strophen stellt die tote Maid fest, dass die Natur – die Lilien, Rosen, die Nachtigall und der Baum – nicht so trauert, wie sie es erwartet hätte. Die Lilien sind ohne Tränen, die Rosen glühen weiter, die Nachtigall singt und der Baum reckt sich freudig in den Himmel. Diese Abwesenheit von Trauer in der Natur kontrastiert scharf mit der Erwartung der toten Maid und unterstreicht die Kluft zwischen der Welt der Lebenden und der Toten. Die Natur ist, wie es scheint, unberührt vom Tod und setzt ihr Leben unbeeindruckt fort.

Die unerwartete Begegnung mit einem Jüngling im Garten führt das Gedicht zu seinem Höhepunkt. Der Jüngling, offenbar ein Trauernder, steht im Gegensatz zur Natur und spiegelt die Erwartungen der toten Maid wider. Er ist „gramesbleich“, „schmerzenreich“, seine „Stirne“ neigt sich, und er weint still um sie. Diese letzte Strophe kehrt das Bild um und zeigt, dass die wahre Trauer, die die tote Maid erwartet, nicht in der Natur, sondern in einem Lebenden zu finden ist. Der Jüngling wird somit zum Stellvertreter für die menschliche Anteilnahme und den Schmerz, der mit dem Verlust einhergeht.

Die Botschaft des Gedichts ist vielschichtig. Einerseits thematisiert es die natürliche Ordnung, in der das Leben weitergeht, auch wenn Einzelne sterben. Andererseits betont es die Einzigartigkeit menschlicher Trauer und die Fähigkeit, tiefen Schmerz zu empfinden und Anteilnahme zu zeigen. Die tote Maid, die im Grunde nach dem Trost der Natur sucht, findet ihn letztlich in der menschlichen Trauer des Jünglings. Das Gedicht suggeriert somit, dass wahre Anteilnahme und Erinnerung im menschlichen Herzen und nicht in der Natur zu finden sind.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.