Notgedrungener Prolog
Der Pickelhering tritt auf
Hier mach ich euch mein Kompliment!
Der Pickelhering bin ich genennt.
War einst bei deutscher Nation
Eine wohlansehnliche Person;
Hatt mich in Schlössern und auf Gassen
Nicht Schimpf noch Sprung verdrießen lassen
Und mit manch ungefügem Stoß
Mein′ sauren Ruhm gezogen groß.
Doch, Undank ist der Welt ihr Lohn!
Seit war ich lang vergessen schon;
Verschlief nun in der Rumpelkammer
All Lebensnot und Erdenjammer;
Da haben sie mich über Nacht
Plötzlich wieder ans Licht gebracht.
Wollen ein alt brav Stück tragieren,
Drin meine Kunnst noch tut florieren,
Ein Stück, darinnen sich von zwei
Nationen zeiget die Poesei!
Ein Engländer Shakespeare hat es ersonnen
– Hab sonst just nichts von ihm vernommen -,
Dann aber hat es Herr Gryphius,
Der gelahrte Poete und Syndikus,
In rechten Schick und Schlag gebracht
Und den deutschen Witz hineingemacht.
Da hört ihr, wie ein ernster Mann
Auch einmal feste spaßen kann.
Doch, Lieber, sag mir, wenn′s gefällt
– Ich war so lang schon außen der Welt -,
Herr Professor Gottsched ist doch nicht zugegen? –
Ich gehe demselben gern aus den Wegen;
Er ist ein gar gewaltsamer Mann
Und hat mir übel Leids getan;
Meinen guten Vetter Hans Wursten hat er
Zu Leipzig gejaget vom Theater,
Weil er zu kräftiglich tät spaßen.
Hätte ja mit sich handeln lassen!
Wir – haben unsre Kurzweil auch;
Doch, Lieber, alles nach Fug und Brauch!
Denn sonders vor dem Frauenzimmer
Muß man subtile reden immer;
Sie zeuchen das Sacktuch sonst vors Gesicht,
Und da schauen sie die Komödia nicht.
Dies aber wär schad überaus;
Denn es ist ein ganzer Blumenstrauß!
Tulipanen und Rosmarin,
Auch Kaiserkronen sind darin;
Die Vergißmeinnichte, so es zieren,
Werden euch sanft das Herze rühren;
Mitunter ist dann auch etwan
Ein deutscher Kohl dazugetan;
Und sollt eine Saudistel drinnen sein,
Das wollt ihr mildiglich verzeihn!
Und nun, Lieber, hab guten Mut,
Und merke, was sich zutragen tut!
Denke: Ein Maul ist kein Rachen,
Eine Kröt ist kein Drachen,
Ein Fingerlein ist kein Maß –
Aber ein Spaß ist alleweil ein Spaß!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Notgedrungener Prolog“ von Theodor Storm präsentiert uns eine humorvolle und selbstironische Einführung in ein Theaterstück. Der „Pickelhering“, eine Figur aus dem Volksstück, tritt hier als Protagonist auf und spricht das Publikum an. Seine Worte sind geprägt von einer Mischung aus Resignation, Stolz und einer gewissen Selbstironie, die den Ton des Gedichts bestimmt.
Die Figur des Pickelherings reflektiert die Entwicklung des Theaters und die damit verbundenen Veränderungen. Er blickt auf eine Vergangenheit zurück, in der er eine „wohlansehnliche Person“ war, die das Publikum in Schlössern und auf Gassen unterhielt. Er beklagt sein zwischenzeitliches Vergessen und die Wiederentdeckung, um nun wieder auf der Bühne zu stehen. Der Pickelhering dient also als Metapher für die traditionelle, volkstümliche Theaterform, die in Kontrast zur gelehrten, akademischen Tradition steht. Er erwähnt Shakespeare und Gryphius, um die Mischung der Einflüsse zu betonen, die das Stück ausmachen.
Der Prolog ist reich an Humor und amüsanten Beobachtungen. Der Pickelhering äußert seine Abneigung gegenüber dem „gewaltsamen“ Herrn Professor Gottsched, der seinen Vetter Hans Wursten vom Theater jagte, und er warnt vor allzu derbem Humor, insbesondere in Anwesenheit von Frauen. Hier wird die gesellschaftliche Rolle des Theaters und die Erwartungen des Publikums ironisch beleuchtet. Die Anspielung auf die feine Gesellschaft und die Notwendigkeit, „subtil“ zu reden, zeigt die Verschiebung der Geschmäcker und die neue Bedeutung von Konventionen.
Das Gedicht endet mit einer humorvollen Aufforderung an das Publikum, sich auf das bevorstehende Stück einzulassen. Die abschließenden Zeilen unterstreichen die Bedeutung des „Spaßes“ als zentrales Element der Theaterkunst. Der Pickelhering erinnert uns daran, dass ein „Spaß“ letztendlich wichtiger ist als akademische Korrektheit oder strenge Regeln. Die Verwendung von volkstümlichen Redewendungen und Reimen unterstreicht den spielerischen und unterhaltsamen Charakter des Gedichts, das letztendlich eine Einladung zu einem unbeschwerten Theaterabend darstellt.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.