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Im Herbste 1850

Von

Und schauen auch von Turm und Tore
Der Feinde Wappen jetzt herab,
Und rissen sie die Trikolore
Mit wüster Faust von Kreuz und Grab;

Und müßten wir nach diesen Tagen
Von Herd und Heimat bettelnd gehn –
Wir wollen′s nicht zu laut beklagen;
Mag, was da muß, mit uns geschehn!

Und wenn wir hülfelos verderben,
Wo keiner unsre Schmerzen kennt,
Wir lassen unsern spätsten Erben
Ein treu besiegelt Testament;

Denn kommen wird das frische Werde,
Das auch bei uns die Nacht besiegt,
Der Tag, wo diese deutsche Erde
Im Ring des großen Reiches liegt.

Ein Wehe nur und eine Schande
Wird bleiben, wenn die Nacht verschwand:
Daß in dem eignen Heimatlande
Der Feind die Bundeshelfer fand;

Daß uns von unsern eignen Brüdern
Der bittre Stoß zum Herzen drang,
Die einst mit deutschen Wiegenliedern
Die Mutter in den Schlummer sang;

Die einst von deutscher Frauen Munde
Der Liebe holden Laut getauscht,
Die in des Vaters Sterbestunde
Mit Schmerz auf deutsches Wort gelauscht.

Nicht viele sind′s und leicht zu kennen –
O haltet ein! Ihr dürft sie nicht
In Mitleid noch im Zorne nennen,
Nicht in Geschichte noch Gedicht.

Laßt sie, wenn frei die Herzen klopfen,
Vergessen und verschollen sein,
Und mischet nicht die Wermutstropfen
In den bekränzten deutschen Wein!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Im Herbste 1850 von Theodor Storm

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Im Herbste 1850“ von Theodor Storm ist eine eindringliche Auseinandersetzung mit den politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die Deutschland im Jahr 1850 erlebte. Es spiegelt die Enttäuschung und den Schmerz über die Niederlage der liberalen Revolution von 1848 wider, aber auch einen unerschütterlichen Glauben an die Zukunft und die Einheit Deutschlands. Die äußere Bedrohung durch feindliche Mächte, die von Türmen und Toren herab ihre Wappen zeigen, wird dabei mit der inneren Zerrissenheit durch Verrat und Spaltung kontrastiert.

Die ersten beiden Strophen beschreiben die äußeren Umstände der politischen Situation. Der Verlust der Ideale der Revolution, symbolisiert durch das Zerreißen der Trikolore, und die drohende Vertreibung aus der Heimat werden akzeptiert, ohne lautes Klagen. Storm zeigt hier eine Haltung der Resignation und des Martyriums, die sich in der Bereitschaft zum Verderben und der Hoffnung auf ein „treu besiegeltes Testament“ für die Nachwelt ausdrückt. Diese Passagen verdeutlichen die tiefe Enttäuschung über den Ausgang der Revolution, gleichzeitig aber auch den unerschütterlichen Glauben an eine bessere Zukunft.

Im weiteren Verlauf des Gedichts wandert der Fokus von der äußeren Bedrohung zur inneren Zerrissenheit. Der Dichter beklagt den Verrat der eigenen Brüder, die sich mit den Feinden verbündet haben und der deutschen Sache schaden. Dieser Verrat wird in der Folge mit großer Emphase geschildert, indem die Vergangenheit als Vertrauensbasis hervorgehoben wird, die einst von deutschen Wiegenliedern, von deutschen Frauen und Vätern geprägt war. Der Verlust dieser Einheit, dieser Werte, wird als noch schmerzlicher empfunden als die äußeren politischen Niederlagen.

Die letzten Strophen bieten eine überraschende Lösung für den Schmerz des Verrats. Storm ruft dazu auf, die Verräter zu vergessen und sie weder in der Geschichte noch in der Literatur zu erwähnen. Diese Aufrichtigkeit ist ein Versuch, die Wunden zu heilen und die Zukunft nicht durch Hass und Bitterkeit zu belasten. Der Dichter möchte die Zukunft durch einen „bekränzten deutschen Wein“ symbolisieren, wodurch die Vergangenheit nicht mehr wiederkehrt, sondern dem Fortschritt und der positiven Veränderung durch neue Hoffnung Platz macht. Dies ist ein Akt der Vergebung und des Vertrauens in die Kraft der Einheit.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.