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Geschwisterblut

Von

1

Sie saßen sich genüber bang
Und sahen sich an in Schmerzen;
Oh, lägen sie in tiefster Gruft
Und lägen Herz an Herzen! –

Sie sprach: »Daß wir beisammen sind,
Mein Bruder, will nicht taugen!«
Er sah ihr in die Augen tief:
»O süße Schwesteraugen!«

Sie faßte flehend seine Hand
Und rief: »O denk der Sünde!«
Er sprach: »O süßes Schwesterblut,
Was läufst du so geschwinde!«

Er zog die schmalen Fingerlein
An seinen Mund zur Stelle;
Sie rief: «Oh, hilf mir, Herre Christ,
Er zieht mich nach der Hölle!«

Der Bruder hielt ihr zu den Mund;
Er rief nach seinen Knappen.
Nun rüsteten sie Reisezeug,
Nun zäumten sie die Rappen.

Er sprach: »Daß ich dein Bruder sei,
Nicht länger will ich′s tragen;
Nicht länger will ich drum im Grab
Vater und Mutter verklagen.

Zu lösen vermag der Papst Urban,
Er mag uns lösen und binden!
Und säß er an Sankt Peters Hand,
Den Brautring muß ich finden.«

Er ritt dahin; die Träne rann
Von ihrem Angesichte;
Der Stuhl, wo er gesessen, stand
Im Abendsonnenlichte.

Sie stieg hinab durch Hof und Hall′
Zu der Kapelle Stufen:
»Weh mir, ich hör im Grabe tief
Vater und Mutter rufen!«

Sie stieg hinauf ins Kämmerlein;
Das stand in Dämmernissen.
Ach, nächtens schlug die Nachtigall;
Da saß sie wach im Kissen.

Da fuhr ihr Herz dem Liebsten nach
Allüberall auf Erden;
Sie streckte weit die Arme aus:
»Unselig muß ich werden!«

2

Schon war mit seinem Rosenkranz
Der Sommer fortgezogen;
Es hatte sich die Nachtigall
In weiter Welt verflogen.

Im Erker saß ein blasses Weib
Und schaute auf die Fliesen;
So stille war′s: kein Tritt erscholl,
Kein Hornruf über die Wiesen.

Der Abendschein alleine ging
Vergoldend durch die Halle;
Da öffneten die Tore sich
Geräuschlos, ohne Schalle.

Da stand an seiner Schwelle Rand
Ein Mann in Harm gebrochen;
Der sah sie toten Auges an,
Kein Wort hat er gesprochen.

Es lag auf ihren Lidern schwer,
Sie schlug sie auf mit Mühen;
Sie sprang empor, sie schrie so laut,
Wie noch kein Herz geschrieen.

Doch als er sprach: »Es reicht kein Ring
Um Schwester- und Bruderhände!«
Um stürzte sie den Marmortisch
Und schritt an Saales Ende.

Sie warf in seine Arme sich;
Doch war sie bleich zum Sterben.
Er sprach: »So ist die Stunde da,
Daß beide wir verderben.«

Die Schwester von dem Nacken sein
Löste die zarten Hände:
»Wir wollen zu Vater und Mutter gehn;
Da hat das Leid ein Ende.«

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Gedicht: Geschwisterblut von Theodor Storm

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Geschwisterblut“ von Theodor Storm zeichnet ein düsteres Bild inzestuöser Liebe und des daraus resultierenden Leidens. Es erzählt die Geschichte eines Bruders und einer Schwester, deren verbotene Gefühle im Konflikt mit gesellschaftlichen und religiösen Normen stehen. Die ersten Strophen etablieren die Spannung zwischen den Geschwistern, ihre Zerrissenheit und die Erkenntnis, dass ihre Liebe nicht „taugen“ kann. Das Gedicht ist geprägt von Verzweiflung, Schuldgefühlen und dem Gefühl des Untergangs.

Die Symbolik ist vielschichtig und trägt zur Verstärkung der tragischen Atmosphäre bei. Die „Geschwisteraugen“ und das „Schwesterblut“ sind Metaphern für die innige, aber verbotene Verbindung. Die Erwähnung der Hölle und die flehenden Worte nach dem Eingreifen des Herrn spiegeln die religiöse Dimension des Konflikts wider, der die Charaktere in ihren Entscheidungen gefangen hält. Der Bruder sucht die Lösung beim Papst, um die Bindung zu legalisieren, was die Hoffnungslosigkeit der Situation unterstreicht, da selbst religiöse Autoritäten keine Lösung bieten können.

Der zweite Teil des Gedichts, der durch den Wechsel der Jahreszeiten – vom Sommer zum Herbst – markiert wird, vertieft die Tragödie. Die Schwester, verlassen und verzweifelt, erwartet die Rückkehr ihres Bruders. Die Stille und das Fehlen von jeglichen Lebenszeichen verstärken das Gefühl der Isolation und des Untergangs. Die Rückkehr des Bruders mit der Botschaft, dass keine Ehe möglich ist, führt zur endgültigen Eskalation der Tragödie. Die Schwester, von Schuld und Verzweiflung überwältigt, stürzt sich in seinen Tod.

Storms Gedicht ist eine ergreifende Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten menschlicher Begierde und den gesellschaftlichen Tabus, die daraus entstehen. Der Autor verwendet eine einfache, aber kraftvolle Sprache, um die Intensität der Emotionen und die Verzweiflung der Protagonisten zu vermitteln. Das Fehlen von Erlösung, die einzige Lösung, die die Charaktere sehen, ist der Tod. Dies unterstreicht die Tragik des Stückes und die Unmöglichkeit, sich aus dem Kreislauf von Liebe, Schuld und Verdammnis zu befreien. Das Gedicht ist ein eindringliches Beispiel für die literarische Auseinandersetzung mit den Abgründen der menschlichen Seele.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.