Wie sind sie alle um uns, diese Herrn
in Kammerherrentrachten und Jabots,
wie eine Nacht um ihren Ordensstern
sich immer mehr verdunkelnd, rücksichtslos,
und diese Damen, zart, fragile, doch groß
von ihren Kleidern, eine Hand im Schoß,
klein wie ein Halsband für den Bologneser;
wie sind sie da um jeden: um den Leser,
um den Betrachter dieser Bibelots,
darunter manches ihnen noch gehört.
Sie lassen voller Takt, uns ungestört
das Leben leben wie wir es begreifen
und wie sie′s nicht verstehn. Sie wollten blühn,
und blühn ist schön sein; doch wir wollen reifen,
und das heißt dunkel sein und sich bemühn.
Im Saal
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Im Saal“ von Rainer Maria Rilke zeichnet ein distanziertes Bild einer Gesellschaft, die sich durch äußerliche Pracht und konventionelles Auftreten auszeichnet, aber der tiefgründigen Entwicklung und dem Verständnis des Lebens fernsteht. Der Dichter setzt sich in der ersten Strophe mit der Szenerie auseinander: „Diese Herrn in Kammerherrentrachten und Jabots“ werden beschrieben, zusammen mit „diese Damen, zart, fragile, doch groß / von ihren Kleidern“. Die äußere Erscheinung, die Kleidung und die Haltung, wird detailliert dargestellt, um einen Eindruck von der künstlichen und oberflächlichen Natur dieser Gesellschaft zu vermitteln. Die Metapher „wie eine Nacht um ihren Ordensstern / sich immer mehr verdunkelnd, rücksichtslos“ deutet auf eine gewisse Leere und Kälte in der Welt dieser Menschen hin.
Die zweite Strophe verstärkt den Kontrast zwischen dem oberflächlichen Schein und der tieferen Bedeutung des Lebens. Rilke erwähnt den „Leser“ und den „Betrachter dieser Bibelots“, was auf eine gewisse Distanz zur dargestellten Gesellschaft hinweist. Die Damen und Herren „lassen voller Takt, uns ungestört / das Leben leben wie wir es begreifen“. Hier wird ein wesentlicher Punkt der Kritik deutlich: Die Gesellschaft respektiert zwar die Individualität, hat aber kein Verständnis für die Art und Weise, wie andere das Leben erfahren. Sie sind zufrieden mit ihrem eigenen Verständnis, das vom Dichter impliziert wird, als oberflächlich.
Im Schlussvers gipfelt die Kritik in einem klaren Gegensatz. Die Gesellschaft „wollten blühn, / und blühn ist schön sein“ – sie strebt nach Schönheit und äußerlicher Erscheinung. Der Dichter hingegen bekennt sich zu einem anderen Ideal: „doch wir wollen reifen, / und das heißt dunkel sein und sich bemühn.“ Das „Reifen“ wird hier mit „dunkel sein“ und „sich bemühn“ in Verbindung gebracht. Dies impliziert, dass wahre Erkenntnis und Entwicklung durch Anstrengung und das Verständnis des Komplexen und Unbekannten erreicht werden, im Gegensatz zur leichten Oberfläche der gesellschaftlichen Schönheit.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Rilkes Gedicht eine Gesellschaftskritik darstellt, die die Oberflächlichkeit und das mangelnde Verständnis des Lebens in den Vordergrund stellt. Durch die Gegenüberstellung der äußerlichen Pracht mit der tieferen Sehnsucht nach Reife und Verständnis, schafft Rilke ein poetisches Plädoyer für die Auseinandersetzung mit der Dunkelheit und den Anstrengungen des Lebens. Das Gedicht ist ein Appell für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Welt, weg von der flüchtigen Schönheit hin zur wahren Entwicklung.
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