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Das Kapitäl

Von

Wie sich aus eines Traumes Ausgeburten
aufsteigend aus verwirrendem Gequäl
der nächste Tag erhebt: so gehen die Gurten
der Wölbung aus dem wirren Kapitäl

und lassen drin, gedrängt und rätselhaft
verschlungen, flügelschlagende Geschöpfe:
ihr Zögern und das Plötzliche der Köpfe
und jene starken Blätter, deren Saft

wie Jähzorn steigt, sich schließlich überschlagend
in einer schnellen Geste, die sich ballt
und sich heraushält-: alles aufwärtsjagend,

was immer wieder mit dem Dunkel kalt
herunterfällt, wie Regen Sorge tragend
für dieses alten Wachstums Unterhalt.

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Gedicht: Das Kapitäl von Rainer Maria Rilke

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Das Kapitäl“ von Rainer Maria Rilke ist eine komplexe Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex von Traum, Aufstieg, Vergänglichkeit und dem Kreislauf von Werden und Vergehen, eingebettet in die Metaphorik der Architektur. Der Titel, der sich auf das Kapitäl, den oberen, tragenden Teil einer Säule, bezieht, deutet auf die Bedeutung von Fundament und Struktur hin. Die ersten Verse beschreiben, wie aus dem „verwirrenden Gequäl“ eines Traumes der nächste Tag aufsteigt, was einen Übergang von Unbewusstem ins Bewusstsein andeutet und bereits die Dualität des Gedichts etabliert. Die Gurten der Wölbung, also die formgebenden Elemente des Kapitells, erheben sich, wodurch das Innere freigelegt wird.

In diesem Inneren, dem „gedrängt und rätselhaft Verschlungenen“, befinden sich „flügelschlagende Geschöpfe“. Diese Metapher kann als Darstellung von Ideen, Emotionen oder Erfahrungen verstanden werden, die sich im Geist des Menschen manifestieren. Das „Zögern“ und das „Plötzliche der Köpfe“ suggerieren die Unberechenbarkeit und Flüchtigkeit dieser inneren Wesen, während die „starken Blätter“ mit ihrem „Jähzorn“ auf eine kraftvolle, aber auch zerstörerische Energie hinweisen. Der Saft, der „sich schließlich überschlagend in einer schnellen Geste“ ballt, symbolisiert eine Art von Entfaltung oder Kulmination, die jedoch untrennbar mit der Vergänglichkeit verbunden ist.

Die Dynamik des Aufstiegs und des Falls, des Wachstums und des Verfalls wird durch die Metapher des Regens verstärkt, der „Sorge tragend / für dieses alten Wachstums Unterhalt“ sorgt. Der Regen, der hier als Ausdruck von Zeit und Wandel verstanden werden kann, steht für die kontinuierliche Erneuerung und den Kreislauf, in dem alles existiert. Es ist ein Kreislauf, in dem die Dinge aufsteigen und wieder herunterfallen, wobei das Dunkel, das „kalt herunterfällt“, als die ewige Bedrohung der Vergänglichkeit erscheint.

Rilkes Gedicht ist reich an Kontrasten: Traum und Realität, Aufstieg und Fall, Licht und Dunkelheit. Die architektonische Metaphorik ermöglicht es Rilke, universelle menschliche Erfahrungen wie Kreativität, Vergänglichkeit und den ewigen Kreislauf des Lebens zu erforschen. Die rätselhafte Natur der Bilder und die suggestive Sprache laden den Leser ein, die vielschichtigen Bedeutungen des Gedichts zu erfassen und die eigene Erfahrung von Leben und Tod, von Werden und Vergehen, zu reflektieren.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.