Muß immer der Morgen wiederkommen?
Endet nie des Irdischen Gewalt?
Unselige Geschäftigkeit verzehrt
Den himmlischen Anflug der Nacht.
Wird nie der Liebe geheimes Opfer
Ewig brennen?
Zugemessen ward
Dem Lichte seine Zeit
Und dem Wachen –
Aber zeitlos ist der Nacht Herrschaft,
Ewig ist die Dauer des Schlafs.
Heiliger Schlaf!
Beglücke zu selten nicht
Der Nacht Geweihte –
In diesem irdischen Tagwerk.
Nur die Toren verkennen dich
Und wissen von keinem Schlafe
Als den Schatten
Den du mitleidig auf uns wirfst
In jener Dämmrung
Der wahrhaften Nacht.
Sie fühlen dich nicht
In der goldnen Flut der Trauben
In des Mandelbaums Wunderöl
Und dem braunen Safte des Mohns.
Sie wissen nicht
Daß du es bist
Der des zarten Mädchens
Busen umschwebt
Und zum Himmel den Schoß macht –
Ahnden nicht
Daß aus alten Geschichten
Du himmelöffnend entgegentrittst
Und den Schlüssel trägst
Zu den Wohnungen der Seligen,
Unendlicher Geheimnisse
Schweigender Bote.
Hymnen an die Macht, 2.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Hymnen an die Macht, 2.“ von Novalis ist eine tiefgründige Reflexion über die Dualität von Tag und Nacht, Wachsein und Schlaf sowie die Vergänglichkeit des Irdischen im Vergleich zur Ewigkeit des Unbewussten. Es beginnt mit einer Reihe von rhetorischen Fragen, die die ständige Wiederkehr des Tages und die scheinbar unaufhörliche Herrschaft der „Irdischen Gewalt“ beklagen. Diese Fragen etablieren einen Kontrast zwischen dem rastlosen, geschäftigen Tag und der Ruhe und dem Geheimnis der Nacht.
Im Kern des Gedichts steht die Verehrung des Schlafes als etwas Heiliges und Ewiges. Der Schlaf wird hier nicht als bloßer Zustand der Ruhe betrachtet, sondern als ein Tor zu einer tieferen, wahrhaftigen Realität. Die „Toren“ werden als diejenigen bezeichnet, die diese tieferen Ebenen des Bewusstseins nicht erkennen oder wertschätzen. Sie sind gefangen in der oberflächlichen Wahrnehmung des Tages, unfähig, die Träume und die transformierende Kraft des Schlafes zu erfahren. Novalis deutet an, dass der Schlaf eine Quelle der Erneuerung und des Trostes ist, eine Möglichkeit, der Begrenzung des irdischen Daseins zu entfliehen.
Das Gedicht entfaltet sich in einer Reihe von Bildern, die die transformative Kraft des Schlafes illustrieren. Die „goldne Flut der Trauben“, das „Wunderöl“ des Mandelbaums und der „braune Safte des Mohns“ werden als Wege dargestellt, die Seele in den Schlaf zu geleiten. Der Schlaf wird auch mit der erotischen Ekstase der „zarten Mädchens“ in Verbindung gebracht und symbolisiert so die Befreiung von irdischen Zwängen. Die Nacht wird zu einem Raum der Offenbarung, in dem alte Geschichten wieder lebendig werden und der „Schlüssel“ zu den „Wohnungen der Seligen“ gefunden wird.
Die abschließenden Zeilen festigen die Rolle des Schlafes als Bote unendlicher Geheimnisse. Dieses Gedicht feiert nicht nur den Schlaf als Gegensatz zum Tag, sondern auch als Medium, durch das die Seele in Kontakt mit dem Göttlichen und dem Unendlichen treten kann. Die Nacht und der Schlaf werden als Zufluchtsort vor der Hektik und den Zwängen des Alltags gefeiert, als eine Quelle der Erneuerung und der Erkenntnis, die uns Zugang zu einer tieferen Wahrheit verschafft. Das Gedicht ist eine Hommage an das Unbewusste und die Welt der Träume, die für Novalis eine Quelle der Inspiration und der spirituellen Erleuchtung waren.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.