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Eine Fabel

Von

Vor etwa achtzig, neunzig Jahren,
Vielleicht sinds hundert oder mehr,
Als alle Tiere hin und her
Noch hochgelahrt und aufgekläret waren,
Wie jetzt die Menschen ohngefähr;
– Sie schrieben und lektürten sehr,
Die Widder waren die Skribenten,
Die andern: Leser und Studenten,
Und Zensor war: der Brummelbär. –

Da kam man supplicando ein:
»Es sei unschicklich und sei klein,
Um seine Worte und Gedanken
Erst mit dem Brummelbär zu zanken,
Gedanken müßten zollfrei sein!«
Der Löwe sperrt den Bären ein,
Und tat den Spruch: »Die edle Schreiberei
Sei künftig völlig frank und frei!«

Der schöne Spruch war kaum gesprochen,
So war auch Deich und Damm gebrochen.
Die klügern Widder schwiegen still,
Laut aber wurden Frosch und Krokodil,
Seekälber, Skorpionen, Füchse,
Kreuzspinnen, Paviane, Lüchse,
Kauz, Natter, Fledermaus und Star,
Und Esel mit dem langen Ohr etc. etc.
Die schrieben alle nun, und lieferten Traktate:
Vom Zipperlein und von dem Staate,
Vom Luftballon und vom Altar,
Und wußtens alles auf ein Haar,
Bewiesens alles sonnenklar,
Und rührten durcheinander gar,
Daß es ein Brei und Greuel war.

Der Löwe ging mit sich zu Rate
Und schüttelte den Kopf und sprach:
»Die besseren Gedanken kommen nach;
Ich rechnete, aus angestammtem Triebe,
Auf Edelsinn und Wahrheitliebe –
Sie waren es nicht wert die Sudler, klein und groß;

Macht doch den Bären wieder los!«

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Gedicht: Eine Fabel von Matthias Claudius

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Eine Fabel“ von Matthias Claudius ist eine satirische Auseinandersetzung mit der Aufklärung und deren Folgen für die Meinungsfreiheit und die Qualität der geschriebenen Werke. Die Fabel, die in einer tierischen Welt spielt, dient hier als Mittel, um menschliche Schwächen und die Tücken der unkontrollierten Meinungsäußerung zu kritisieren. Claudius nutzt eine allegorische Sprache, um die Veränderungen in der Geisteswelt seiner Zeit zu kommentieren.

Die Geschichte beginnt mit einer idealisierten Vergangenheit, in der die Tiere in einer Art Aufklärungszeit leben, die der menschlichen sehr ähnelt. Die Widder als fleißige Schreiber, der Brummelbär als Zensor und die allgemeine Lektüre- und Schreibfreude der Tiere spiegeln die intellektuelle Aktivität wider. Die Forderung nach Meinungsfreiheit, ausgedrückt durch die Bitte um Abschaffung des Zensors, klingt zunächst positiv. Der Löwe, als Herrscher, gewährt diese Freiheit, indem er den Bären einsperrt, was jedoch unerwartete Konsequenzen nach sich zieht.

Die Befreiung von Zensur führt zu einem ungezügelten Zustrom von Meinungen und Schriften. Eine Vielzahl von Tieren, die zuvor zum Schweigen verurteilt waren, ergreifen die Feder und produzieren eine Flut von Texten, die von unterschiedlichen Themen handeln. Diese Werke werden als minderwertig und wirr dargestellt, was durch Formulierungen wie „Brei und Greuel“ oder der Hinweis auf das Fehlen von Fachwissen verdeutlicht wird. Dies stellt eine kritische Reflexion der vermeintlichen Vorteile von Meinungsfreiheit dar.

Die abschließenden Verse zeigen die Ernüchterung des Löwen, der seine Entscheidung bereut. Er erkennt, dass die unkontrollierte Freiheit nicht zu einem Zuwachs an Wahrheit und Qualität geführt hat, sondern zu einem Chaos. Die „besseren Gedanken“, die er erwartet hatte, bleiben aus. Die Fabel endet mit dem Wunsch, den Bären wieder freizulassen, was die Rücknahme der Meinungsfreiheit impliziert. Dies ist eine ironische Wendung, die die Komplexität der Aufklärung und die Notwendigkeit einer ausgewogenen Meinungslandschaft hervorhebt. Claudius warnt vor den Gefahren der unkontrollierten Freiheit, die zu einer Flut von unqualifizierten Meinungen und zur Vernachlässigung von Substanz führen kann.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.