Das Lied vom Reifen
Seht meine lieben Bäume an,
Wie sie so herrlich stehn,
Auf allen Zweigen angetan
Mit Reifen wunderschön!
Von unten an bis oben ´naus
Auf allen Zweigelein
Hängt´s weich und zierlich, zart und kraus,
Und kann nicht schöner schein.
Ein Engel Gottes geht bei Nacht,
Streut heimlich hier und dort,
Und wenn der Bauersmann erwacht,
Ist er schon wieder fort.
Du Engel, der so gütig ist,
Wir sagen Dank und Preis,
O mach uns doch zum heil´gen Christ
Die Bäume wieder weiß!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Das Lied vom Reifen“ von Matthias Claudius beschreibt in einfacher, idyllischer Sprache die Schönheit von Raureif auf Bäumen. Das Gedicht beginnt mit einer direkten Ansprache, in der der Betrachter aufgefordert wird, die Bäume in ihrem winterlichen Schmuck zu bestaunen. Die Beschreibung des Raureifs als „Reifen“ und „wunderschön“ deutet auf eine positive, fast kindliche Begeisterung für das Naturschauspiel hin. Die Wiederholung der Reimstruktur und die einfache Wortwahl unterstützen den Eindruck einer beschaulichen und harmonischen Szene.
Der zweite Teil des Gedichts führt eine religiöse Dimension ein. Die Entstehung des Raureifs wird einem „Engel Gottes“ zugeschrieben, der nachts heimlich die „Reifen“ verteilt. Diese Personifizierung verleiht dem Naturereignis eine göttliche Note und vermittelt eine Botschaft von Fürsorge und Gnade. Der Engel handelt im Verborgenen, was die mystische Atmosphäre verstärkt. Die Beschreibung der Tätigkeit des Engels als „streut“ und die anschließende Abwesenheit des Engels am Morgen lassen an ein sanftes, unaufdringliches Wirken Gottes denken.
Die Bitte an den Engel, die Bäume wieder „weiß“ zu machen, stellt eine Verbindung zur Weihnachtszeit her. Das Gedicht thematisiert somit die Vergänglichkeit und das Werden. Die Schönheit des Raureifs wird als ein Geschenk des Himmels dargestellt, das jedoch nicht von Dauer ist. Die weiße Farbe, die an Schnee und Winter erinnert, wird im Zusammenhang mit der Weihnachtszeit als Symbol der Reinheit und der Hoffnung interpretiert. Die Erwartung der „heil´gen Christ“ – die Wiederkehr des Erlösers – unterstreicht diese Hoffnung und gibt dem Gedicht eine tiefe spirituelle Bedeutung.
Claudius schafft mit diesem Gedicht eine Verbindung zwischen Naturbeobachtung, religiöser Verehrung und weihnachtlicher Erwartung. Die einfache Sprache und die klare Struktur machen das Gedicht zugänglich und erzeugen ein Gefühl von Geborgenheit und Dankbarkeit. Es ist ein Lied, das die Schönheit des Alltäglichen in den Blick nimmt und gleichzeitig auf eine höhere, göttliche Ordnung verweist. Das Gedicht feiert die Vergänglichkeit und die Schönheit der winterlichen Natur, eingebettet in ein christliches Verständnis von Gnade und Hoffnung.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.