Ballade vom Schatten
Engte mich mein kleiner Schatten ein,
Kleiner Schatten, der mich streng umschrieb,
Mir drei Schritt voraus, zur Seite ging
Oder drei in meinem Rücken blieb.
Sprach ich: Schatten, böser Spiegel Schatten,
Soll ich ewig treuer Diener sein,
Immerfort von deinem Maß beschlossen,
Ewig Abbild und für ewig dein?
Schatten sprach darauf: Gib mir ein Licht,
Größres Licht gib mir, mich drin zu strecken,
Und ich geh von dir, groß und namenlos
Weithin fremde Erde zu bedecken.
Frau, da ging deines Blickes Mond,
Deiner Augen Sonne schräg überm Himmel auf.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Ballade vom Schatten“ von Maria Luise Weissmann beschäftigt sich auf subtile Weise mit den Themen Selbstbeschränkung, dem Wunsch nach Befreiung und der Suche nach Identität. Es beginnt mit der Beschreibung eines kleinen Schattens, der die sprechende „Ich“-Figur ständig begleitet und einschränkt. Dieser Schatten, der in der Enge des eigenen Wesens gefangen scheint, symbolisiert hier die eigenen, oft unbewussten Hemmnisse und Begrenzungen, die uns in unserem Leben begleiten und unser Handeln bestimmen. Die präzisen Angaben der Distanz (drei Schritte voraus, zur Seite oder im Rücken) verdeutlichen die ständige Präsenz und Kontrolle des Schattens.
Der zweite Teil des Gedichts ist eine direkte Konfrontation. Die „Ich“-Figur wendet sich in einem Monolog an den Schatten, der zum „böser Spiegel“ erklärt wird. Dies unterstreicht die Frage nach der eigenen Identität und dem Wunsch nach Freiheit von dieser ständigen Spiegelung. Die rhetorischen Fragen drücken den Wunsch nach einer Überwindung der eigenen Grenzen aus. Die „Ich“-Figur fühlt sich durch den Schatten gefangen, in einem ewigen Kreislauf von Abbild und Unterwerfung, und hinterfragt die Notwendigkeit dieser Rolle. Dies ist ein deutlicher Ausdruck der Sehnsucht nach Emanzipation.
Die Antwort des Schattens ist überraschend und tiefgründig. Er fordert nach mehr Licht, um sich zu entfalten und „weithin fremde Erde zu bedecken“. Diese Bitte um mehr Licht kann als Metapher für die Sehnsucht nach Erkenntnis, Erfahrung und Wachstum interpretiert werden. Der Schatten möchte sich aus der eigenen Begrenzung lösen und nach außen wirken. Dies deutet auf den Wunsch nach Selbstverwirklichung und die Notwendigkeit, sich mit der Welt auseinanderzusetzen, um seine volle Größe zu entfalten. Die Aussage impliziert, dass die eigene Entwicklung eng mit der äußeren Welt verbunden ist.
Das Gedicht endet mit einem überraschenden und poetischen Bild: „Frau, da ging deines Blickes Mond, / Deiner Augen Sonne schräg überm Himmel auf.“ Diese Zeilen deuten auf die Erfüllung des Wunsches des Schattens. Das Licht, das benötigt wird, ist die Strahlkraft der „Frau“, und ihres Blickes. Der Wechsel der Metaphern, von „Mond“ und „Sonne“, deutet auf eine Steigerung der Intensität hin. Es ist eine Anspielung darauf, dass die Lösung von der eigenen Begrenzung in der Kraft und im Licht der Liebe und der Schönheit gefunden wird. Der Schatten, der von der Liebe des „Blicks“ befreit wird, kann nun seiner eigentlichen Bestimmung nachgehen, indem er „weithin fremde Erde bedecken“ kann.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.