Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , ,

Täuschung

Von

Ich ruhte aus vom Wandern,
Der Mond ging eben auf,
Da sah ich fern im Lande
Der alten Tibet Lauf,
Im Walde lagen Trümmer,
Paläste auf stillen Höhn
Und Gärten im Mondesschimmer –
O Welschland, wie bist du schön!

Und als die Nacht vergangen,
Die Erde blitzte so weit,
Einen Hirten sah ich bangen
Am Fels in der Einsamkeit.
Den fragt ich ganz geblendet:
Komm ich nach Rom noch heut?
Er dehnt′ sich halbgewendet:
Ihr seid nicht recht gescheut!
Eine Winzerin lacht′ herüber,
Man sah sie vor Weinlaub kaum,
Mir aber gings Herze über –
Es war ja alles nur Traum.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Täuschung von Joseph von Eichendorff

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Täuschung“ von Joseph von Eichendorff thematisiert die Erfahrung der Desillusionierung und die Fragilität der menschlichen Wahrnehmung. Es beginnt mit einem Moment der Ruhe und der Kontemplation, als der Erzähler nach einer Wanderung den Mondaufgang beobachtet. Die Szene, die sich vor ihm entfaltet – Trümmer, Paläste, Gärten im Mondschein – ruft eine überwältigende Sehnsucht nach einer idealisierten Welt hervor. Der Ausruf „O Welschland, wie bist du schön!“ zeugt von einer tiefen Begeisterung und dem Wunsch nach einer romantisch verklärten Vergangenheit oder einem fernen, paradiesischen Ort.

Die zweite Strophe bringt einen entscheidenden Wendepunkt. Nach dem Erwachen aus dem nächtlichen Traum trifft der Erzähler auf einen Hirten und stellt ihm die Frage nach dem Weg nach Rom. Diese Frage ist symptomatisch für die Suche nach einem festen Ziel, nach einer greifbaren Realität inmitten der traumhaften Erscheinungen. Die Antwort des Hirten, die eine Warnung beinhaltet, deutet bereits auf die bevorstehende Auflösung der Illusion hin. Die Winzerin, die sich im nächsten Moment zeigt, symbolisiert die verführerische Schönheit und die Sinnlichkeit des Lebens. Doch die Erkenntnis, dass alles nur ein Traum war, zerreißt die romantische Illusion und führt zur Ernüchterung.

Eichendorff verwendet in diesem Gedicht eine einfache, bildhafte Sprache, die die Traumwelt lebendig werden lässt. Die Verwendung von starken Bildern wie „Trümmer, Paläste auf stillen Höhn“ und „Gärten im Mondesschimmer“ erzeugt eine Atmosphäre der Sehnsucht und des Geheimnisvollen. Der Wechsel zwischen Tag und Nacht, zwischen Traum und Wirklichkeit, unterstreicht die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit der menschlichen Erfahrung. Die Landschaft dient als Projektionsfläche für die eigenen Wünsche und Sehnsüchte, die sich in der Realität nicht erfüllen lassen.

Die zentrale Botschaft des Gedichts ist die Erkenntnis, dass die Welt, die wir wahrnehmen, oft von unseren eigenen Erwartungen und Sehnsüchten geprägt ist. Die Täuschung liegt nicht in der äußeren Welt selbst, sondern in unserer Interpretation und unserem Wunsch, eine idealisierte Realität zu erschaffen. Das Gedicht erinnert uns daran, dass wir uns vor allzu großen Hoffnungen hüten sollten, da die Wahrheit manchmal schmerzhaft sein kann. Die Erfahrung der Desillusionierung ist ein wichtiger Schritt zur Reife und zur Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit und der Begrenztheit menschlicher Möglichkeiten.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.