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Generalbeichte

Von

Lasset heut im edeln Kreis
Meine Warnung gelten!
Nehmt die ernste Stimmung wahr!
Denn sie kommt so selten.
Manches habt ihr vorgenommen,
Manches ist euch schlecht bekommen,
Und ich muß euch schelten.

Reue soll man doch einmal
In der Welt empfinden!
So bekennt, vertraut und fromm,
Eure größten Sünden!
Aus des Irrtums falschen Weiten
Sammelt euch und sucht bei Zeiten
Euch zurechtzufinden!

Ja, wir haben, sei′s bekannt,
Wachend oft geträumet,
Nicht geleert das frische Glas,
Wenn der Wein geschäumet;
Manche rasche Schäferstunde,
Flücht′gen Kuß vom lieben Munde,
Haben wir versäumet.

Still und maulfaul saßen wir,
Wenn Philister schwätzten,
Über göttlichen Gesang
Ihr Geklatsche schätzten;
Wegen glücklicher Momente,
Deren man sich rühmen könnte,
Uns zur Rede setzten.

Willst du Absolution
Deinen Treuen geben,
Wollen wir nach deinem Wink
Unabläßlich streben,
Uns vom Halben zu entwöhnen,
Und im Ganzen, Guten, Schönen
Resolut zu leben,

Den Philistern allzumal
Wohlgemut zu schnippen,
Jenen Perlenschaum des Weins
Nicht nur flach zu nippen,
Nicht zu liebeln leis mit Augen,
Sondern fest uns anzusaugen
An geliebte Lippen.

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Gedicht: Generalbeichte von Johann Wolfgang von Goethe

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Generalbeichte“ von Johann Wolfgang von Goethe präsentiert eine humorvolle und selbstironische Betrachtung des eigenen Lebens und der vermeintlichen „Sünden“ der Gesellschaft. Es ist ein Appell an eine Gruppe, die sich selbst als edel betrachtet, dazu, ihre Fehler und Versäumnisse einzugestehen und sich für ein erfüllteres Leben zu öffnen. Die Ansprache an den „edeln Kreis“ deutet auf eine elitäre Runde hin, die sich der Selbstreflexion und der Verbesserung widmen sollte.

Goethes Stil ist hier geprägt von einer Mischung aus Ernsthaftigkeit und Augenzwinkern. Die „Warnung“ am Anfang und die Aufforderung zur „Reue“ erwecken zunächst den Eindruck einer ernsten moralischen Belehrung. Doch die „Sünden“, die im Folgenden aufgezählt werden, entlarven die eigentliche Intention des Gedichts: Es sind keine schweren Verbrechen, sondern eher verpasste Gelegenheiten, Genüsse und Erfahrungen, die im Laufe des Lebens vernachlässigt wurden. Das Verpassen von „raschen Schäferstunden“ und „flüchtigen Küssen“ sowie das Zögern, den Wein in vollen Zügen zu genießen, werden zu den zentralen „Versäumnissen“ erklärt.

Die Ironie des Gedichts liegt in der Diskrepanz zwischen dem feierlichen Tonfall der „Beichte“ und den trivialen „Sünden“, die gebeichtet werden. Goethe karikiert damit die Neigung des Menschen, sich selbst zu idealisieren und übertrieben strenge Maßstäbe anzulegen. Er stellt die Frage, ob es nicht lohnender ist, das Leben in all seinen Facetten zu genießen, anstatt sich in moralischen Zwängen zu verlieren. Die Ablehnung der „Philister“, also der kleinbürgerlichen Spießigkeit, ist ein weiteres zentrales Motiv, das für ein freies und genussorientiertes Leben plädiert.

Das Gedicht endet mit einem Aufruf zur Veränderung. Die „Treuen“ sollen sich vom „Halben“ entwöhnen und sich dem „Ganzen, Guten, Schönen“ zuwenden. Konkret bedeutet das, die Philister zu ignorieren, den Wein in vollen Zügen zu genießen und die Liebe intensiv zu leben. Die „Absolution“ am Ende, die Goethe in Aussicht stellt, ist jedoch nicht als Freispruch im religiösen Sinne zu verstehen, sondern als die Erlaubnis, das Leben in vollen Zügen zu genießen und die eigenen Wünsche zu verfolgen. Das Gedicht ist somit eine Ode an die Lebensfreude und die Selbstbestimmung.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.