Die wandelnde Glocke
Es war ein Kind, das wollte nie
 Zur Kirche sich bequemen,
 Und Sonntags fand es stets ein Wie,
 Den Weg ins Feld zu nehmen.
Die Mutter sprach: »Die Glocke tönt,
 Und so ist dir′s befohlen,
 Und hast du dich nicht hingewöhnt,
 Sie kommt und wird dich holen.«
Das Kind, es denkt: Die Glocke hängt
 Da droben auf dem Stuhle.
 Schon hat′s den Weg ins Feld gelenkt,
 Als lief′ es aus der Schule.
Die Glocke, Glocke tönt nicht mehr,
 Die Mutter hat gefackelt.
 Doch welch ein Schrecken! Hinterher
 Die Glocke kommt gewackelt.
Sie wackelt schnell, man glaubt es kaum;
 Das arme Kind im Schrecken,
 Es läuft, es kommt als wie im Traum:
 Die Glocke wird es decken.
Doch nimmt es richtig seinen Husch,
 Und mit gewandter Schnelle
 Eilt es durch Anger, Feld und Busch
 Zur Kirche, zur Kapelle.
Und jeden Sonn- und Feiertag
 Gedenkt es an den Schaden,
 Läßt durch den ersten Glockenschlag,
 Nicht in Person sich laden.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Die wandelnde Glocke“ von Johann Wolfgang von Goethe ist eine humorvolle und lehrreiche Ballade, die die Geschichte eines Kindes erzählt, das sich dem Kirchgang widersetzt und stattdessen die Freiheit auf dem Feld genießt. Das Gedicht verbindet auf spielerische Weise Elemente der Fantasie mit einer moralischen Botschaft über Gehorsam und die Folgen von Ungehorsam. Die Verwendung von Reimschema und Rhythmus, typisch für eine Ballade, erzeugt einen Sog, der den Leser durch die Abenteuer des Kindes führt.
Die Kernbotschaft des Gedichts wird durch die Personifizierung der Glocke transportiert. Die Mutter, die die Autorität verkörpert, warnt das Kind vor den Folgen seines Verhaltens, indem sie die Glocke als bedrohliche Instanz darstellt, die es holen würde, sollte es sich der Kirche entziehen. Diese Warnung wird in der Phantasie des Kindes zur Realität, als die Glocke plötzlich zum Leben erwacht und es verfolgt. Die Darstellung der Glocke als unheimliche Verfolgerin, die wackelt und sich dem Kind nähert, erzeugt Spannung und unterstreicht die kindliche Furcht vor den Folgen des Ungehorsams.
Das Gedicht gipfelt in einer unerwarteten Wendung: Das Kind, von der Glocke verfolgt, flieht in Panik und sucht schließlich Schutz in der Kirche, der Instanz, die es ursprünglich vermeiden wollte. Diese Szene verdeutlicht die Botschaft des Gedichts auf subtile Weise: Das Kind erkennt, dass der Glaube und die Tradition, die die Kirche symbolisieren, letztendlich Schutz und Sicherheit bieten. Die Panik des Kindes wird so zu einer Lektion über die Notwendigkeit von Gehorsam und die Konsequenzen von Rebellion.
Das Ende des Gedichts, in dem das Kind nun regelmäßig die Kirche besucht und durch den ersten Glockenschlag daran erinnert wird, was geschehen ist, verfestigt die Moral der Geschichte. Es zeigt, dass das Kind aus seinen Erfahrungen gelernt hat und nun die Werte der Gemeinschaft akzeptiert. Goethe verwendet hier eine einfache Sprache und lebendige Bilder, um eine komplexe Moral zu vermitteln, die sowohl das Kind als auch den Leser anspricht. Die „wandelnde Glocke“ wird so zum Symbol für die Folgen des Ungehorsams und die Bedeutung von Tradition und Glauben.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.