Bist du schon auf der Sonne gewesen?
Bist du schon auf der Sonne gewesen?
Nein? – Dann brich dir aus einem Besen
Ein kleines Stück Spazierstock heraus
Und schleiche dich heimlich aus dem Haus
Und wandere langsam in aller Ruh
Immer direkt auf die Sonne zu.
So lange, bis es ganz dunkel geworden.
Dann öffne leise dein Taschenmesser,
Damit dich keine Mörder ermorden.
Und wenn du die Sonne nicht mehr erreichst,
Dann ist es fürs erstemal schon besser,
Daß du dich wieder nach Hause schleichst.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Bist du schon auf der Sonne gewesen?“ von Joachim Ringelnatz ist eine charmante und surreal anmutende Auseinandersetzung mit dem Wunsch nach Erfahrung und dem Scheitern dieses Wunsches. Der Sprecher stellt zunächst eine einfache Frage, die eine kindliche Neugier weckt: „Bist du schon auf der Sonne gewesen?“. Die darauf folgende Antwort, eine Aufforderung, die an Einfachheit und Absurdität kaum zu übertreffen ist, deutet sofort den humorvollen Ton des Gedichts an. Der Leser wird ermutigt, sich auf eine absurde Reise zu begeben, indem er einen Besen zerbricht und sich heimlich aus dem Haus schleicht.
Die Anweisungen des Sprechers sind in ihrer Logik unvereinbar und erzeugen einen deutlichen Kontrast zwischen der kindlichen Vorstellungskraft und der harten Realität. Die Aufforderung, „immer direkt auf die Sonne zu“ wandern, bis es dunkel wird, ist einerseits unmöglich und andererseits sinnlos, da die Sonne nur tagsüber scheint. Die Anweisung, ein Taschenmesser mitzunehmen, um sich vor „Mördern“ zu schützen, fügt eine dunkle und unerwartete Note hinzu, die die scheinbare Unbeschwertheit der ersten Verse aufbricht und auf die Gefahren des Lebens anspielt.
Die abschließende Zeile, „Dann ist es fürs erstemal schon besser, / Daß du dich wieder nach Hause schleichst,“ unterstreicht das Scheitern der Reise. Der Leser hat die Sonne nicht erreicht, aber die Erfahrung, der Fantasie gefolgt zu sein, wird auf subtile Weise belohnt. Ringelnatz deutet an, dass es nicht immer das Ziel ist, das zählt, sondern der Weg und die Bereitschaft, sich auf das Unmögliche einzulassen. Das Gedicht feiert die kindliche Neugier und die Freiheit, die eigenen Grenzen zu überschreiten, selbst wenn die Reise ins Leere führt.
Insgesamt ist das Gedicht eine spielerische Reflexion über Träume, Erwartungen und das Scheitern als Teil des Lebens. Ringelnatz nutzt einfache Sprache und überraschende Bilder, um eine Botschaft zu vermitteln, die sowohl humorvoll als auch tiefgründig ist. Es ist eine Einladung, die Welt mit den Augen eines Kindes zu betrachten, bereit, das Unmögliche zu versuchen und die Schönheit in der Unvollkommenheit zu finden.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.