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Im Meer

Von

Der Himmel hängt wie Blei so schwer
Dicht auf dem wildempörten Meer;
Ein englisch Segel, fast die Quer,
Schiesst wie ein Pfeil darüber her.

Ein Messer, so das Meer sich schliff,
Da starrt ein scharfes Felsenriff
Und schlitzt das Engelländerschiff;
Das Meer tut einen guten Griff.

Viel tausend Bibeln sind die Fracht,
Die sinken in die Wassernacht;
Schon hat in blanker Schuppentracht
Das Seevolk sich herbeigemacht.

Da wimmelt es von Lurch und Fisch,
Sie sitzen am Korallentisch,
Her schiesst der Leviathan risch:
Was ist das für ein Flederwisch ?

Die Seeschlang′ als die Königin
Kommt auch und blättert her und hin,
Sie putzt die Brill′ und liest darin
Verkehrt und findet keinen Sinn.

Sie ziehn den Steuermann empor
Und halten ihm die Bibel vor;
Doch der zu schweigen sich verschwor,
Das Meer durchbraust sein taubes Ohr.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Im Meer von Gottfried Keller

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Im Meer“ von Gottfried Keller entwirft eine düstere Szenerie, in der die Naturgewalten und das Schicksal auf grausame Weise interagieren. Es beginnt mit einer beklemmenden Beschreibung des Himmels und des aufgewühlten Meeres, die bereits eine bedrohliche Atmosphäre erzeugt. Das Auftauchen des englischen Segelschiffs, wie ein Pfeil durch die Szene schiessend, führt unvermeidlich zum Unglück: Das Schiff zerschellt an einem Felsenriff und die Fracht, Tausende von Bibeln, versinkt in den Tiefen des Meeres. Die Metapher des „Messers“, mit dem sich das Meer an dem Schiff „schleift“, unterstreicht die zerstörerische Kraft der Natur.

Der zweite Teil des Gedichts verlagert den Fokus auf das Leben im Meer, das sich auf den Untergang des Schiffes zu stürzen scheint. Hier wird eine groteske Unterwasserwelt skizziert, bevölkert von „Lurch und Fisch“ und angeführt von den mythologischen Kreaturen Leviathan und Seeschlange. Die versunkene Bibel wird zum Anlass für eine skurrile Szene, in der die Seeschlange, die Königin des Meeres, versucht, die Bibel zu lesen, aber aufgrund der verdrehten Schrift keinen Sinn darin findet. Diese Szene wirkt ironisch und zeigt die Sinnlosigkeit, die in der Natur herrscht, wo die menschlichen Werte und das Wort Gottes keine Bedeutung haben.

Das Gedicht gipfelt in der grausamen Darstellung des Steuermanns, der von den Meeresbewohnern aus dem Wasser gezogen und mit der Bibel konfrontiert wird. Obwohl ihm die Bibel als „Zeugnis“ vorgehalten wird, bleibt der Steuermann stumm, sein Gehör wird vom tosenden Meer übertönt. Diese Schlusspointe verstärkt die Thematik des Scheiterns, des Verlusts und der Ohnmacht des Menschen gegenüber den unkontrollierbaren Kräften der Natur und des Schicksals. Das Meer, in seiner unerbittlichen Wildheit, repräsentiert das Böse, das menschliche Bemühungen zunichte macht.

Kellers Sprache ist präzise und bildreich. Die Verwendung von Metaphern und Vergleichen, wie „der Himmel hängt wie Blei“ oder das „Messer“ für das Felsenriff, erzeugt eine starke visuelle Vorstellungskraft. Die Reime und der Rhythmus unterstützen die düstere Stimmung und unterstreichen die Tragik des Geschehens. Das Gedicht ist somit eine Auseinandersetzung mit den menschlichen Grenzen, der Macht der Naturgewalten und der Sinnlosigkeit des Lebens angesichts des Todes und des Untergangs.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.