Friede der Kreatur
Spinnen waren mir auch zuwider
All meine jungen Jahre,
Ließen sich von der Decke nieder
In die Scheitelhaare,
Saßen verdächtig in den Ecken
Oder rannten, mich zu erschrecken,
Über Tischgefild und Hände,
Und das Töten nahm kein Ende.
Erst als schon die Haare grauten,
Begann ich sie zu schonen
Mit den ruhiger Angeschauten
Brüderlich zu wohnen;
Jetzt mit ihren kleinen Sorgen
Halten sie sich still geborgen,
Lässt sich einmal eine sehen,
Lassen wir uns weislich gehen.
Hätt ich nun ein Kind, ein kleines,
In väterlichen Ehren,
Recht ein liebliches und feines,
Würd ich’s mutig lehren,
Spinnen mit den Händen fassen
Und sie freundlich zu entlassen;
Früher lernt’ es Friede halten
Als es mir gelang, dem Alten.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Friede der Kreatur“ von Gottfried Keller beschreibt eine Wandlung in der Einstellung des Erzählers gegenüber Spinnen. Im ersten Teil des Gedichts, der durch die Beschreibung der „jungen Jahre“ markiert wird, herrschte eine Abneigung und der Wunsch nach Vernichtung der Spinnen vor. Diese Phobie scheint sich in verschiedenen Szenarien gezeigt zu haben, wie dem Herunterkommen der Spinnen von der Decke, dem Verstecken in Ecken oder dem übermäßigen Laufen, was den Erzähler erschreckte.
Der zweite Teil des Gedichts zeigt eine Veränderung in der Einstellung des Erzählers, die mit dem Ergrauen seiner Haare einhergeht. Er beginnt, die Spinnen zu verschonen und in friedlicher Koexistenz mit ihnen zu leben. Diese Veränderung deutet auf eine Reifung und eine erhöhte Fähigkeit zur Gelassenheit und Akzeptanz hin. Die Spinnen werden nun nicht mehr als Bedrohung, sondern als Geschöpfe mit „kleinen Sorgen“ betrachtet. Die ruhige Beobachtung und das friedliche Nebeneinanderleben verdeutlichen eine gewachsene Toleranz und ein Verständnis für die Natur.
Im abschließenden Teil des Gedichts wird eine Hoffnung auf die Weitergabe dieser neuen Gelassenheit und des Friedens ausgedrückt. Der Erzähler wünscht sich, ein Kind im „väterlichen Ehren“ zu haben, dem er beibringen würde, mit Spinnen freundlich umzugehen und sie zu entlassen. Diese Vision unterstreicht die Überzeugung, dass der Friede mit der Kreatur eine Fähigkeit ist, die man lernen kann und die am besten von Kindheit an gepflegt wird. Der letzte Vers „Früher lernt‘ es Friede halten / Als es mir gelang, dem Alten“ hebt hervor, dass das Kind diese Weisheit früher erlernen würde als der Erzähler selbst, was auf einen Fortschritt in der menschlichen Entwicklung hindeutet.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Gedicht eine Metapher für die persönliche Entwicklung und die Fähigkeit zur Toleranz und Akzeptanz darstellt. Es zeigt, wie sich die Einstellung zu etwas, das zunächst als widerwärtig empfunden wird, durch Reifung und Erkenntnis verändern kann. Die Spinnen stehen symbolisch für alles, was Angst oder Abneigung auslöst, und die Wandlung des Erzählers ist ein Plädoyer für einen friedlicheren Umgang mit der Welt und ihren Bewohnern.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.