Wen liebt ich so wie dich,
geliebter Schatten!
Ich zog dich an mich, in mich – und seitdem
ward ich beinah zum Schatten,
du zum Leibe.
Nur daß mein Auge unbelehrbar ist,
gewöhnt, die Dinge außer sich zu sehen:
Ihm bleibst du stets das ewge Außer-mir.
Ach, dieses Auge bringt mich außer mich!
An das Ideal
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „An das Ideal“ von Friedrich Nietzsche reflektiert eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem Konzept des Ideals und seiner Beziehung zum Selbst. Nietzsche personifiziert das Ideal als einen geliebten „Schatten“, der zunächst als etwas Äußeres wahrgenommen wird, aber dann in das lyrische Ich eindringt und es beeinflusst. Dieser Prozess führt zu einer Verschiebung der Identität, indem das Ich dem Ideal immer ähnlicher wird, bis es fast selbst zu einem Schatten wird, während das Ideal die „Leibhaftigkeit“ annimmt.
Die zentrale Spannung des Gedichts liegt in der paradoxen Natur des Ideals. Einerseits ist das Ideal etwas, das das Ich anzieht und ihm einen Sinn gibt, eine Richtung weist. Andererseits birgt diese Anziehungskraft die Gefahr des Verlusts der eigenen Identität, der Auflösung des Selbst in dem Ideal. Das „Auge“ wird hier zum Symbol für die Fähigkeit des Ichs, die Welt wahrzunehmen und zu bewerten, aber auch für die ständige Sehnsucht nach dem Außerhalb, dem Ideal.
Die Verwendung von Begriffen wie „Schatten“ und „Leib“ deutet auf eine Dualität hin, die das Gedicht durchzieht. Der Schatten symbolisiert das Flüchtige, das Unfassbare, das Ideal selbst, während der Leib für die konkrete Realität, das Selbst, steht. Die fast symbiotische Beziehung zwischen Ich und Ideal, die durch das „in mich“ und „du zum Leibe“ ausgedrückt wird, zeigt die Verschmelzung, die das Ich mit dem Ideal eingeht, aber auch die Gefahr, sich darin zu verlieren.
Die abschließende Zeile „Ach, dieses Auge bringt mich außer mich!“ drückt die Verzweiflung und das Leiden des Ichs aus. Das Auge, das zuvor als unbelehrbar beschrieben wurde, wird nun zur Ursache für den Verlust des Selbst, für die Entfremdung vom eigenen Ich. Es ist das Auge, das stets nach dem Ideal sucht und sich ihm zuwendet, das das Ich aus seiner Mitte reißt. Somit offenbart Nietzsche hier die dunkle Seite des Ideals, seine zerstörerische Kraft, die das Individuum entweder zur Selbstaufgabe oder zum Wahnsinn treiben kann.
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