Wer sleht den lewen? wer sleht den risen?
wer überwindet jenen unt disen?
daz tuot einer der sich selber twinget
und alliu sîniu lit in huote bringet
ûz der wilde in stæter zühte habe.
geligeniu zuht und schame vor gesten
mugen wol eine wîle erglesten:
der schîn nimt drâte ûf unt abe.
Wer sleht den lewen?
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Wer sleht den lewen?“ von Walther von der Vogelweide thematisiert die wahre Stärke und Überlegenheit, die nicht in äußerer Gewalt, sondern in innerer Disziplin und Selbstbeherrschung liegt. Der Dichter stellt eingangs rhetorische Fragen, die nach denjenigen suchen, die imstande sind, Löwen und Riesen zu besiegen – Symbole für die größten Herausforderungen und Feinde. Die Fragen erzeugen Spannung und lenken die Aufmerksamkeit auf die Suche nach einem mächtigen Helden, der fähig ist, diese scheinbar unüberwindlichen Gegner zu bezwingen.
Die Antwort auf diese Fragen erfolgt überraschend: Es ist derjenige, „der sich selber zwingt“ und seine „alliu sîniu lit in huote bringet“. Die eigentliche Stärke liegt also nicht in körperlicher Kraft oder militärischer Überlegenheit, sondern in der Fähigkeit zur Selbstkontrolle und zur Beherrschung der eigenen Impulse und Leidenschaften. Diese innere Disziplin wird als Grundvoraussetzung für wahre Stärke dargestellt. Die Metapher, die das Gedicht benutzt, um diese Idee auszudrücken, ist die Transformation von „wilde“ in „stæter zühte“.
Der abschließende Teil des Gedichts warnt vor bloßer äußerer Erscheinung und kurzlebiger Fassade. Walther von der Vogelweide kritisiert die „geligeniu zuht und schame vor gesten“, also eine vorübergehende Tugendhaftigkeit oder Schamhaftigkeit, die lediglich dem äußeren Schein dient. Solche Eigenschaften können nur eine Weile täuschen, da der Schein schnell verblasst („der schîn nimt drâte ûf unt abe“). Die Botschaft ist klar: Wahre Tugend und Stärke sind nicht von kurzer Dauer oder von äußerlichen Einflüssen abhängig, sondern resultieren aus beständiger innerer Arbeit und Selbstbeherrschung.
Walther von der Vogelweide vermittelt in diesem Gedicht eine zeitlose Weisheit. Er stellt die gängigen Vorstellungen von Stärke und Heldenmut in Frage und betont die Bedeutung von innerer Stärke und Selbstkontrolle. Die rhetorische Form und die bildhafte Sprache verstärken die Wirkung des Gedichts und machen es zu einer eindringlichen Mahnung, die über die mittelalterliche Zeit hinaus Gültigkeit besitzt. Der Autor legt den Fokus auf die innere Entwicklung und die Notwendigkeit, die eigenen Schwächen und Triebe zu zügeln, um wahre Stärke zu erlangen.
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Lizenz und Verwendung
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