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Vil wol gelobter got…

Von

Vil wol gelobter got, wie selten ich dich prîse,
sît ich von dir beide wort hân unde wîse!
wie getar ich sô gefreveln under dîme rîse?
Ichn tuon diu rehten werc, ichn hân die wâren minne
ze mînem ebenkristen, hêrre vater, noch ze dir:
sô holt enwart ich ir dekeinem nie sô mir.
Krist, vater unde sun, dîn geist berihte mîne sinne.
Wie solt ich den geminnen der mir übele tuot?
mir muoz der iemer lieber sîn der mir is guot
vergib mir anders mîne schulde, ich wil noch haben den muot.

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Gedicht: Vil wol gelobter got... von Walther von der Vogelweide

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Vil wol gelobter got…“ von Walther von der Vogelweide ist eine tiefgründige Auseinandersetzung mit der eigenen Frömmigkeit und dem Verhältnis zu Gott, eingebettet in eine mittelalterliche Weltanschauung. Es beginnt mit einer Selbstanklage, in der der Dichter seine mangelhafte Preisung Gottes beklagt, obwohl er von ihm Worte und Weisheit empfangen hat. Der Dichter hinterfragt, wie er es wagen kann, unter Gottes Obhut zu sündigen. Er gesteht, dass er weder gute Werke vollbringt noch wahre Liebe zu seinen Mitmenschen oder Gott selbst empfindet, ein Zustand, der ihn verzweifeln lässt.

In den folgenden Zeilen wird das eigentliche Problem offenbart: Die Unfähigkeit des Dichters, seinen Nächsten zu lieben, besonders jene, die ihm Übles antun. Dies offenbart einen inneren Konflikt, der ihn daran hindert, die christlichen Gebote vollständig zu erfüllen. Er erkennt die Notwendigkeit, denjenigen zu lieben, die ihm Gutes tun, und fleht Gott um Vergebung für seine „Schulde“, seine Sünden. Dieser Widerspruch zwischen den eigenen Idealen und dem tatsächlichen Verhalten des Dichters ist ein zentrales Thema des Gedichts und spiegelt die menschliche Unvollkommenheit wider, die auch im mittelalterlichen Glauben eine zentrale Rolle spielte.

Die Struktur des Gedichts, mit seinen Reimen und dem ernsten Ton, unterstreicht die aufrichtige Reue und das Bemühen des Dichters um Besserung. Die Anrufung Gottes als „Vater“ und die Bitte um Führung durch den „Geist“ zeugen von der tiefen Gläubigkeit und dem Wunsch nach spiritueller Erneuerung. Die Verwendung des Wortes „Krist“ (Christus) verdeutlicht die Betonung der christlichen Lehre von Liebe und Vergebung, die der Dichter zu erreichen sucht.

Walther von der Vogelweide, einer der bedeutendsten Minnesänger, thematisiert hier nicht nur seine persönliche Beziehung zu Gott, sondern auch universelle Fragen nach Moral, Liebe und Vergebung. Das Gedicht ist ein Beispiel für die Auseinandersetzung mit religiösen Fragen, die im Mittelalter weit verbreitet war. Es ist ein Aufruf zur Selbstreflexion und zur Überwindung der eigenen Schwächen, um dem christlichen Ideal der Nächstenliebe näherzukommen. Das Gedicht stellt somit einen intimen Einblick in die spirituelle Welt eines mittelalterlichen Dichters dar.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.