Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , ,

Tingel-Tangel

Von

Trauert nicht, ihr Völkerscharen,
Ob der schweren Zeit der Not.
Packt das Leben bei den Haaren.
Morgen ist schon mancher tot.

Küssen, um geküßt zu werden,
Lieben, um geliebt zu sein,
Gibt′s ein schöner Los auf Erden
Für ein artig Mägdelein?

Ja, die Liebe ist mein Credo,
Meines Lebens Inbegriff,
Und so werd′ ich zum Torpedo,
Ach, für manches Panzerschiff,

Ach, mir ist zumut, als stünde
Mir geschrieben im Gesicht:
Eine grauenvollre Sünde
Als die Tugend gibt es nicht!

Fürchte nichts, mein süßer Schlingel;
In der schweren Not der Zeit
Freut der Mensch sich nur im Tingel-
Tangel seiner Menschlichkeit.

Bei dem allgemeinen Mangel
Idealer Seelenglut
Trefft ihr nur im Tingel-Tangel,
Was das Herz erheben tut.

Saht ihr einen süßren Engel
Je zu eurem Zeitvertreib,
Als ein hübsches Tangel-Tengel-Tingel-
Tongel-Tungel- Weib?

Tuben schmettern, Pauken dröhnen,
Schrille Pfeifen gellen drein,
Spenden dem Gesang der Schönen
Ihre Jubel-Melodein.

Wie die Sturmflut unermüdlich,
Tönt des Konterbaß Gebrumm;
Und die Schöne lächelt friedlich
Nieder auf das Publikum.

Ach, da werden wider Willen
Aller Augen patschenaß,
Kneifer türmen sich auf Brillen,
Und davor das Opernglas.

Trommelwirbel und Geklingel!
Lauter dröhnt der Pauken Ton;
Und im Taumel tanzt die Tingel-
Tangel-Tänzerin davon.

Und nun schwillt das dumpfe Gröhlen
Zum Radau bei alt und jung,
Und aus tausend Männerkehlen
Wälzt sich die Begeisterung.

Doch das Mädchen ist entschwunden,
Hat sich auch vielleicht derweil
Schon mit Schnüren losgebunden
Ihrer Reize größten Teil.

Lang noch hallen tiefgestöhnte
Liebesklagen ringsumher;
Doch umsonst, das heißersehnte
Mädchen kokettiert nicht mehr.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Tingel-Tangel von Frank Wedekind

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Tingel-Tangel“ von Frank Wedekind ist eine zynische und satirische Auseinandersetzung mit den Themen Liebe, Vergnügen und Moral in einer Zeit wirtschaftlicher Not. Der Titel, der an ein Varieté oder eine Art Nachtclub erinnert, deutet auf das zentrale Thema des Gedichts hin: die flüchtige und kommerzielle Natur des Vergnügens und der Sinnlichkeit. Das Gedicht zeichnet ein Bild einer Welt, in der die Menschen Trost und Ablenkung in den einfachen Freuden suchen, während die traditionellen Werte und Ideale in den Hintergrund treten.

Das Gedicht beginnt mit einem Aufruf, das Leben trotz der Widrigkeiten der Zeit zu genießen. Die Zeilen „Packt das Leben bei den Haaren. Morgen ist schon mancher tot“ zeigen eine gewisse Resignation gegenüber der Vergänglichkeit des Lebens und einen Appell, die vorhandenen Freuden zu nutzen. Die Verse über das „artige Mägdelein“ und die Liebe als Credo des Lebens weisen auf die Prioritäten der Menschen in dieser Welt hin. Die Liebe, so scheint es, wird reduziert auf ein Spiel von Geben und Nehmen, auf den Wunsch, geliebt zu werden, ohne tiefere emotionale Bindungen. Das Gedicht stellt die traditionelle Moral in Frage, indem es die Tugend als „grauenvollre Sünde“ bezeichnet und somit eine ironische Perspektive einnimmt.

Die folgenden Strophen beschreiben das „Tingel-Tangel“ als einen Ort der Zuflucht und des Vergnügens, ein Kontrast zur Not der Zeit. Die Beschreibung der Musik, der Tänzerinnen und der Reaktion des Publikums ist lebendig und voller Sinnlichkeit. Wedekind verwendet eine Mischung aus direkter Sprache und ironischen Kommentaren, um die Atmosphäre des Ortes darzustellen. Die letzte Strophe, in der das Mädchen verschwindet und die Sehnsucht der Männer unerfüllt bleibt, unterstreicht die Flüchtigkeit des Vergnügens und die Unerreichbarkeit des Begehrens. Das Gedicht endet mit einem Gefühl der Ernüchterung und der Leere, was die Vergänglichkeit von Vergnügungen und das Scheitern des Versuchs, wahres Glück in der Oberflächlichkeit zu finden, verdeutlicht.

Insgesamt ist „Tingel-Tangel“ ein Kommentar zur sozialen und moralischen Atmosphäre der Zeit, in der das Gedicht entstand. Wedekind kritisiert die Oberflächlichkeit und den Materialismus, die die traditionellen Werte verdrängen. Das Gedicht ist ein Ausdruck von Zynismus und einer tiefen Sehnsucht nach etwas Echtem und Beständigem in einer Welt, in der alles käuflich und vergänglich zu sein scheint. Die Verwendung von Ironie und Satire ermöglicht es Wedekind, die Widersprüche und Absurditäten des menschlichen Daseins aufzudecken und den Leser zum Nachdenken anzuregen.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.