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Thränen der Jungferschafft

Von

Susser Gifft verliebter Hertzen,
Schwaches Werck-Zeug voller Krafft,
Werthes Ziel der keuschen Schmertzen,
Du berühmte Jungferschafft!
Freylich gehet deine Zier
Allen schönen Sachen für.

Wie die Rosen in dem Meyen
Ihre bleiche Lieblichkeit
Niemals schöner von sich streuen,
Als wenn ihre Sicherheit
Vnberührt und unbefleckt
In dem grünen Stocke steckt.

Also muß man dich erheben,
Weil du keiner fremden Hand
Dich zum Raube wilst ergeben,
Sondern das beliebte Pfand
Aller Ruh und Lebens-Rast
An der süssen Freyheit hast.

Du ergetzst dich an der Jugend,
Bist also an dir vergnügt,
Und gebrauchst dich deiner Tugend,
Welche dir im Hertzen liegt,
Da sie auch die beste Frucht,
An der Zarten Keuschheit sucht.

Doch wie lange kan es wären?
Endlich muß die Jugend sich
Durch den schnellen Lauff verzehren,
Oder es beruffet dich
Liebe, Lust und Eitelkeit
In der Tugend Wettestreit.

Wil man bey den Aepffelbäumen
Zu der lust spatzieren gehn,
Darff man nicht die Zeit versäumen
Wann sie in der Blüte stehn,
Eh der Gärtner nach der Saat
Auch die Frucht gebrochen hat.

Und soll dann der schönen Wangen
Halbvermischtes Milch und Blut
Gantz und gar vergebens prangen,
Wie ein saurer Apffel thut,
Welcher nicht so wohl den Zahn
Als das Aug ergetzen kan?

Wein und Bier wird ja zum trincken
Nicht zum Ansehn auffgesetzt,
Und was nutzt ein guter Schincken
Wann er nicht den Mund ergetzt?
Solte denn der Jugend Schein
Auch nicht etwas nütze seyn?

Freylich pflantzt die Zeuge-Mutter
Dir was heimlichs in die Brust,
Daß du dich nach frembden Futter
Höchst-begierig sehnen must,
Vnd da fehlt dir manche Krafft
O du arme Jungferschafft!

Wie manch schönes Nest voll Eyer
Unter Frost und Kälte steht,
Biß das angenehme Feuer
Frembder Brüt darüber geht;
Also ist es umb den Stand,
Den du führest, auch bewandt.

Manches Schäfgen trägt die Schwere
Seiner Wollen mit Verdruß,
Weil es auff des Schäfers Schere
Gar zu lange warten muß:
Manche Rose krümmt den Stiel,
Weil sie niemand brechen wil.

Gute Nacht du leere Schüssel,
O du Leuchter ohne Liecht!
Festes Schloß, doch sonder Schlüssel,
Gute Wag und kein Gewicht,
Ach wiewohl ist die daran
Die beyzeiten freyen kan!

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Gedicht: Thränen der Jungferschafft von Christian Weise

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Thränen der Jungferschafft“ von Christian Weise ist eine komplexe Auseinandersetzung mit der Thematik der Jungfräulichkeit und deren Wert in einer Gesellschaft, die von der fortschreitenden Jugend und ihren sinnlichen Bedürfnissen geprägt ist. Es präsentiert eine ambivalente Haltung, die einerseits die Tugendhaftigkeit und den Wert der Jungfräulichkeit hervorhebt, andererseits aber auch die Vergänglichkeit und die natürliche Sehnsucht nach Erfüllung thematisiert.

Das Gedicht beginnt mit einer Lobpreisung der Jungfräulichkeit, die als „susser Gifft verliebter Hertzen“ und „werthes Ziel der keuschen Schmertzen“ bezeichnet wird. Diese Metaphern deuten bereits auf die paradoxe Natur der Tugendhaftigkeit hin: Sie ist süß und begehrenswert, kann aber gleichzeitig mit Schmerz und Entbehrung verbunden sein. Die ersten Strophen vergleichen die Jungfräulichkeit mit einer unberührten Rose, die ihre Schönheit am besten entfaltet, solange sie unbefleckt und geschützt ist. Diese Bilder unterstreichen den Wert der Unberührtheit und die Reinheit, die mit ihr verbunden sind.

Die zweite Hälfte des Gedichts wendet sich jedoch der Vergänglichkeit der Jugend und den natürlichen Bedürfnissen zu. Es werden Fragen nach der Nutzlosigkeit der Schönheit gestellt, wenn sie nicht erfahren und gelebt wird. Die Metapher vom Apfel, der am Baum verrottet, wenn er nicht gepflückt wird, verdeutlicht die Vorstellung, dass die Jungfräulichkeit letztendlich vergebens sein könnte, wenn sie nicht in Erfüllung geht. Die Zeilen über Wein, Bier und Schinken, die zum Trinken und Essen bestimmt sind, stellen die Frage, ob der „Schein der Jugend“ nicht auch einem ähnlichen Zweck dienen sollte.

Der Schluss des Gedichts ist von Melancholie und einer gewissen Resignation geprägt. Weise weist auf die natürlichen Triebe und die Sehnsucht nach Zuneigung und Intimität hin, die letztendlich die Jungfräulichkeit in Frage stellen. Er vergleicht die Jungfräulichkeit mit einem Nest voller Eier, das auf das wärmende Feuer wartet, oder mit einem Schaf, das auf die Schere wartet. Die letzten Zeilen sind ein resignierter Appell an diejenigen, die die Gelegenheit zur Heirat und zur Erfüllung nicht verpassen, was die ambivalente Haltung des Dichters gegenüber der Jungfräulichkeit nochmals unterstreicht.

Insgesamt ist das Gedicht eine vielschichtige Reflexion über die Jungfräulichkeit, ihre Tugenden und ihre Grenzen im Kontext der menschlichen Natur und der gesellschaftlichen Erwartungen. Es ist ein melancholisches Loblied, das gleichzeitig die Vergänglichkeit der Jugend und die Sehnsucht nach Liebe und Erfüllung thematisiert, und somit ein Zeugnis der inneren Zerrissenheit des Dichters zwischen Tradition und der Stimme des Herzens.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.