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Sturmnacht
Im Hinterhaus, im Fliesensaal
Über Urgroßmutters Tisch′ und Bänke,
Über die alten Schatullen und Schränke
Wandelt der zitternde Mondenstrahl.
Vom Wald kommt der Wind
Und fährt an die Scheiben;
Und geschwind, geschwind
Schwatzt er ein Wort,
Und dann wieder fort
Zum Wald über Föhren und Eiben.
Da wird auch das alte verzauberte Holz
Da drinnen lebendig;
Wie sonst im Walde will es stolz
Die Kronen schütteln unbändig,
Mit den Ästen greifen hinaus in die Nacht,
Mit dem Sturm sich schaukeln in brausender Jagd,
Mit den Blättern in Übermut rauschen,
Beim Tanz im Flug
Durch Wolkenzug
Mit dem Mondlicht silberne Blicke tauschen.
Da müht sich der Lehnstuhl, die Arme zu recken,
Den Rokokofuß will das Kanapee strecken,
In der Kommode die Schubfächer drängen
Und wollen die rostigen Schlösser sprengen;
Der Eichschrank unter dem kleinen Troß
Steht da, ein finsterer Koloß.
Traumhaft regt er die Klauen an,
Ihm zuckt′s in der verlornen Krone;
Doch bricht er nicht den schweren Bann. –
Und draußen pfeift ihm der Wind zum Hohne
Und fährt an die Läden und rüttelt mit Macht,
Bläst durch die Ritzen, grunzt und lacht,
Schmeißt die Fledermäuse, die kleinen Gespenster,
Klitschend gegen die rasselnden Fenster.
Die glupen dumm neugierig hinein –
Da drinn′ steht voll der Mondenschein.
Aber droben im Haus
Im behaglichen Zimmer
Beim Sturmgebraus
Saßen und schwatzten die Alten noch immer,
Nicht hörend, wie drunten die Saaltür sprang,
Wie ein Klang war erwacht
Aus der einsamen Nacht,
Der schollernd drang
Über Trepp′ und Gang,
Daß drin in der Kammer die Kinder mit Schrecken
Auffuhren und schlüpften unter die Decken.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Sturmnacht“ von Theodor Storm beschreibt die lebendige Atmosphäre, die durch einen nächtlichen Sturm in einem alten Haus erzeugt wird. Das Gedicht ist in drei Strophen gegliedert und beginnt mit der Beschreibung des Mondscheins, der durch das Hinterhaus wandert und die darin befindlichen Möbel und Gegenstände beleuchtet. Der Wind, der vom Wald her kommt, wird als eine anthropomorphe Figur dargestellt, die an den Fensterscheiben „schwatzt“ und die Umgebung zum Leben erweckt.
Die zweite Strophe konzentriert sich auf die Verwandlung der Möbel im Haus. Der Wind scheint sie zum Leben zu erwecken, sodass sie sich nach Freiheit und Bewegung sehnen. Die Möbel, wie der Lehnstuhl, das Kanapee und der Eichschrank, werden vermenschlicht und scheinen sich nach dem Sturm zu sehnen, nach der Möglichkeit, sich wie Bäume im Wind zu wiegen. Der Wind wird als ein treibender, unbändiger Geist dargestellt, der die Möbel dazu bringt, ihren „Bann“ zu brechen, aber letztendlich ohne Erfolg.
In der dritten Strophe verlagert sich der Fokus von den Möbeln zu den Bewohnern des Hauses. Während der Sturm draußen tobt, sitzen die alten Leute unbeeindruckt im „behaglichen Zimmer“ und unterhalten sich. Sie scheinen die Dramatik, die sich in den anderen Teilen des Hauses abspielt, nicht wahrzunehmen oder zu hören. Die Tür zum Saal springt auf, und ein geheimnisvoller Klang erfüllt die Nacht, der die Kinder erschreckt und unter die Decken treibt. Dies deutet auf eine Kluft zwischen der gelassenen Welt der Erwachsenen und der ängstlichen Reaktion der Kinder auf die Unruhe des Sturms.
Die Metaphern und Personifikationen in dem Gedicht erzeugen eine lebendige und atmosphärische Szenerie. Die Gegenstände werden mit menschlichen Eigenschaften versehen, während der Wind als eine Art „Bühnenregisseur“ fungiert, der das Geschehen lenkt und die Möbel in Bewegung setzt. Storm nutzt dieses Stilmittel, um die Macht der Natur und ihre Auswirkungen auf die menschliche Psyche zu verdeutlichen, sowie die unterschiedliche Wahrnehmung und Reaktion verschiedener Generationen auf äußere Einflüsse.
Das Gedicht kann als eine Reflexion über die Beziehung zwischen Mensch und Natur, sowie über die unterschiedliche Art und Weise, wie Menschen mit Angst und Veränderung umgehen, interpretiert werden. Während die Alten in ihrem „behaglichen Zimmer“ dem Sturm trotzen, werden die Kinder von der Unruhe der Nacht erschreckt, was auf die unterschiedliche Fähigkeit hinweist, mit äußeren Einflüssen und dem Unbekannten fertig zu werden. Das Gedicht zeichnet somit das Bild einer Nacht, in der die Grenzen zwischen Innen und Außen, Lebendem und Unbelebtem verschwimmen.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.