Glaub′ ich′s, daß ihr nun auch mein trinakrisch Glück mir beneidet?
Eifrer der Heimath, ihr seid, heilige Frömmler, gemeint.
»Unersättlich nach Sinnengenuß, von Freude zu Freude
Jagt er bethört und bedenkt nicht, daß die Nemesis naht.
Irdischem neigt sich der Sinn, der verwilderte. Bessrer Empfindung,
Frommer und reiner, verschließt er das vergiftete Herz.
Sitte achtet er nicht noch Gesetz, nicht Glauben und Schule,
Den die Willkür allein, den die Begierde beherrscht.
So der Heimath entflohn von dem ernsteren Gange des Lebens
Schwelgt er in Lust und Genuß selbst bis an Lybiens Strand.«
Schweigt, o Kinder des Lichts, ihr auserkohrenen Lämmer;
Ja, verkünd′ ich es nur, größrer Entzückungen Rausch,
Kühnere Orgien feiert′ ich nicht, seitdem mir des Lebens
Schäumender Becher den Mund freieren Geistes berührt.
Ja, gesteh′ ich′s euch nur, ich schämte mich selber der Heimath,
Wärt ihr das Aermlichste nicht, was noch die Mutter gebar,
Zeugte die Stammburg einst, die zertrümmerte, theure, die Helden,
Das unsterbliche Paar, staufische Friedriche nicht.
Hör′s, engbrüstig Geschlecht, ich verberge dir nichts, ich bekenne
Stolz und freudig, wie Zeus reich mir die Tage geschenkt.
Bald am Anapus weil′ ich, es gleitet der Kahn zu der Quelle,
Und auf dem flüssigen Pfad schattet die Blume des Nils.
Bald umschweben die Göttinnen mich im seligen Enna,
Und die Stunde, da mir Helios einst sich erhob
Ueber des Aetnas Riesengebild, nicht, glaub′ ich, ihr gleichet,
Währt es auch Ewigkeit, all euer Leben an Werth.
Bald in duftigen Hainen besuch ich des Akragas Tempel,
Einen ganzen Olymp birgt mir das liebliche Grün.
Selinunts Titanenruin und der stolzen Segesta
Troisches Säulenhaus ladet den Glücklichen ein.
Bald nach Karthagos Trümmern vom lilybäischen Strande
Wünsch′ ich mich über die See, über die lybische, weg.
Unter Marsalas Palmen und hesperidischen Reben
Wandr′ ich zum heiligen Berg, hört es, zum Eryx hinan.
Schmähet ihr noch, so ruf ich dich an, o Genius: Lehre
Dithyrambischen Worts stolzre Bedeutungen mich
So entströme die Flamme des Aetnas Grunde, so wälze
Donnernd der purpurne Strom sich aus der Tiefe hervor;
So umstürme des Gipfels Orkan den begeisterten Sinn mir,
Und der brausende Dampf werde mir delphische Gluth;
So umdufte das Veilchen Proserpinas Fels und vom Eryx
Nahe voll zärtlicher Gluth, nahe mit rosigem Arm
Mir das schönste der Mädchen, es nah′ Amathusia selbst mir
Und kredenze des Kelchs ewig verjüngenden Trank.
Schon durchglüht mich die Flamme, vernehmt′s: Was ist′s, wenn im Taumel
Eurer zu spotten ich mir Apotheose geträumt!
Sicilianische Lieder (4)
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Sicilianische Lieder (4)“ von Wilhelm Friedrich Waiblinger ist eine leidenschaftliche Verteidigung des Genusses und der Freiheit gegenüber der Enge und dem Puritanismus der Heimat. Der Sprecher wendet sich zunächst an „heilige Frömmler“, die sein „trinakrisch Glück“ – das heißt, sein Glück in Sizilien – beneiden. Er verwirft die Lebensweise, die von Enthaltsamkeit, Tugend und dem Gehorsam gegenüber Gesetzen und Traditionen geprägt ist, und feiert stattdessen die sinnliche Freude, das freie Denken und die individuelle Freiheit. Er bekennt sich stolz zu seinem Lebensstil und fordert seine Kritiker heraus.
Der Sprecher beschreibt seine Erfahrungen in Sizilien und anderen exotischen Orten, wo er sich von der Heimat entfernt hat. Er reist an den Anapus, in das „selige Enna“, wo ihn „Göttinnen“ umgeben, und besucht Tempel und Ruinen. Diese Beschreibungen sind von Sinneseindrücken geprägt: Düfte, Farben, die Wärme der Sonne, die Bewegung des Wassers. Er kontrastiert die Eintönigkeit und Beschränktheit der Heimat mit der Fülle und Schönheit der Natur, die ihm in Sizilien widerfährt. Der Sprecher betont die Intensität seiner Erlebnisse und stellt sie über das Wertesystem seiner Kritiker.
Das Gedicht ist nicht nur eine Feier des Genusses, sondern auch eine Auflehnung gegen die moralischen Zwänge der Gesellschaft. Der Sprecher wünscht sich sogar die Kraft, die Flamme des Ätna und den „purpurnen Strom“ aus der Tiefe zu entfesseln, um seinen Geist zu beflügeln. Er beschwört den „Genius“ und bittet um Inspiration, um noch kühnere und leidenschaftlichere Worte zu finden. Er sucht die Nähe zu den Göttern und Göttinnen, die für die Freude und das sinnliche Leben stehen.
Waiblingers Sprache ist bildhaft und expressiv. Er verwendet Metaphern, Vergleiche und Anspielungen, um die Schönheit der Natur und die Intensität seiner Erlebnisse zu vermitteln. Die rhythmische Struktur des Gedichts, die Wiederholungen und die rhetorischen Fragen verstärken die leidenschaftliche Haltung des Sprechers. Das Gedicht ist eine deutliche Abkehr von der Enge und den Moralvorstellungen seiner Zeit und ein Bekenntnis zur persönlichen Freiheit und zum Streben nach Glück, selbst wenn dies bedeutet, sich von der Gesellschaft zu distanzieren. Die abschließende Zeile „Schon durchglüht mich die Flamme, vernehmt’s: Was ist’s, wenn im Taumel / Eurer zu spotten ich mir Apotheose geträumt!“ unterstreicht die Selbstverherrlichung und die Missachtung der Kritik.
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