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Selmar an seinen Bruder

Von

O du – wie soll ich dich in meinen Qualen nennen?
Kann ich dich Bruder nennen? – Nein!
Du würdest sonst nicht Bruderblut verkennen
Und gegen mich ein Tiger sey!
Und doch beschwör′ ich dich beim süßen Brudernamen!
Sey einmal Mensch, und höre mich!
Sind wir nicht aufgezeugt von Eines Vaters Saamen?
Trug meine Mutter nicht auch dich?
Ach denke dran, und blick in meine Kerkerhöhle,
Entzieh dich meinem Jammer nicht!
Und sieh einmal die Leiden meiner Seele
Im abgezehrten Angesicht!

Sieh diese dünnen, grauen Locken!
Und meiner Wangen Roth verbleicht!
Sieh dieses Aug′ von langem Weinen trocken!
Und höre, wie mein Ach aus kranker Lunge keucht!
O, neunzehn bange Jahre leiden!
In menschenloser Einsamkeit
Vertrocknen zum Gefühl der Freuden;
Ist eine fürchterliche Zeit! –

Was hab′ ich denn gethan? Sprich! Bin ich ein Rebelle,
Der mit gehobner Faust sein Vaterland verheert?
Bin ich ein Gottesfeind? Ein schwarzer Sohn der Hölle?
Hab′ ich Religion und Wissenschaft entehrt?
Lebt′ ich zur Schande unsers Adels?
War ich ein Sklav der niedern Sinnlichkeit?
War ich mit Recht der Vorwurf deines Tadels?
Und hab′ ich je die Bruderpflicht entweiht?
Floß falsches Blut aus tückisch bösem Herzen?
War ich ein Heuchler feig und schlimm?
Empfand ich statt des Mitleids sanften Schmerzen
Des Misanthropen schwarzen Grimm?
O Bruder, nein! – zu laut zeugt mein Gewissen;
Ich kenne diese Frevel nicht.

Was unser Bruderband – dies heilige Band zerrissen,
War Leichtsinn – nicht verletzte Pflicht.

Wenn Traubengold im Krystallglase blinkte,
So trank ich oft – vielleicht ein Glas zu viel;
Und wenn die Liebe mir aus blauen Augen winkte;
So war ich nie ein Klotz, ein Hasser vom Gefühl.

Oft griff ich auch dem Trotzer an die Kehle,
Von jugendlichem Muth belebt,
Denn Feigheit haßte meine Seele,
Und weibisch hat sie nie gebebt.

Doch sprich! sind dies so schreckliche Verbrechen,
Die du an mir mit grausamem Verlust
Der Freiheit und des Lebens rächen,
Ach, so unendlich rächen mußt!

Sind neunzehn Jahre voller Kummer,
Zum Jammerberge aufgehäuft,
Sind Schauernächte ohne Schlummer,
Ein Bett mit Thränenfluth beträuft;

Sind Klagen, die um schwarze Wände fliegen,
Ist langsamer verbißner Gram;
Sind Seufzer, die der Brust entstiegen,
Seit deine Wuth mir alles nahm;

Sind dies die Strafen meiner Fehler?
Ist Leichtsinn solcher Qualen werth?
Und bist du selbst der fürchterliche Qualen,
Der, wie ein Geier, sich von meiner Leber nährt?

O Bruder glaub′s, denn Gott hat′s ausgesprochen!
Unmenschlichkeit – ist mehr, als meine Schuld;
Mit Donnern hat er oft den Bruderhaß gerochen,
Und Leichtsinn trug er meist mit schonender Geduld.

Und dennoch zweifelst du, dein hartes Herz zu zeigen,
Ob Reu′ und Buße möglich sey?
Läßt deinen Bruderhaß zum höchsten. Gipfel steigen
Und spottest meiner Sklaverei.

Ja wäre Gottes Herz von deiner Eisenhärte,
So nähm′ er nicht die Sünder an;
Er drohte nur mit seinem Flammenschwerte,
Und würgte, weil er würgen kann.

Doch ach, was klag′ ich? – Meine Klagen
Sind doch umsonst! sie prallen ab von dir,
Wie Wellen sich an rauhen Klippen schlagen;
So hart und grausam bist du mir! –
O ist′s dir möglich – so erbarme
Dich über meine lange Noth!
Beut mir dein Herz und deine Bruderarme,
Und komm, entreisse mich dem Kerkertod!

Ach laß mich Gottes freie Lüfte
Doch einmal wieder in mich ziehn,
Einathmen süße Frühlingsdüfte
Und an der Brust des Freundes wieder glühn.
Erlaube mir die letzten Reste
Des kurzen Lebens frei zu seyn;
Hol mich herab von meiner Veste,
Der langen Zeugin meiner Pein!
Laß mich einmal in jenem Grabe modern,
Wo unser Vater, unsre Mutter ruht!
Sonst wird dereinst ihr Schatten von dir fodern
Des Sohnes und des Bruders Blut!
Ach lern einmal des Mitleids Wonne schmecken!
Sey Bruder, und erbarme dich.
Doch sollen länger mich des Kerkers Qualen schrecken,
So schwinge deinen Dolch, und komm und tödte mich.

Dann bin ich doch einmal der langen Pein entrissen,
Der bangen, schreckenvollen Pein;
Denn, ach! das Glück der goldnen Freiheit missen,
Heißt mehr als todt, heißt ein Verdammter seyn.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Selmar an seinen Bruder von Christian Friedrich Daniel Schubart

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Selmar an seinen Bruder“ von Christian Friedrich Daniel Schubart ist ein erschütternder Appell eines Gefangenen an seinen Bruder. Der Text ist von tiefer Verzweiflung, Klage und dem verzweifelten Wunsch nach Erlösung geprägt. Selmar fleht seinen Bruder an, ihn aus dem Gefängnis zu befreien, die Ungerechtigkeit seiner Haft zu erkennen und Reue zu zeigen.

Die Struktur des Gedichts ist durch einen Wechsel zwischen Klage, Vorwürfen und Appellen geprägt. Selmar beschreibt zunächst seine körperliche und seelische Verfassung in den Kerkerqualen. Die langen Verse und der regelmäßige Reim (Kreuzreim) erzeugen einen Sog der Verzweiflung, der den Leser unmittelbar in Selmars Gefühlswelt hineinzieht. Er hinterfragt, was er verbrochen hat, um eine solch grausame Strafe zu erleiden. Die rhetorischen Fragen unterstreichen die Ungerechtigkeit, die er empfindet, und seine Ungläubigkeit gegenüber der Reaktion seines Bruders.

Die Kernbotschaft des Gedichts liegt in der Anklage des Bruders und der Betonung der Brüderlichkeit. Selmar beschreibt, dass sein „Leichtsinn“ – kleinere Vergehen, wie gelegentliches Trinken und die Liebe zum Leben – keineswegs die jahrelange Haft rechtfertigen. Er wirft seinem Bruder Unmenschlichkeit vor und beschwört ihn, die christliche Tugend der Barmherzigkeit zu zeigen. Der Vergleich mit Gott, der Sündern verzeiht, unterstreicht die Hoffnung des Sprechers auf eine Versöhnung.

Das Gedicht gipfelt in dem Aufruf zur Barmherzigkeit und der Bitte um Befreiung. Selmar sehnt sich nach den „freien Lüften“ und der Wiedervereinigung mit der Natur und den Freunden. Die wiederholten Bitten nach den „Bruderarmen“ und der Erlösung vom Kerkertod zeigen die tiefe Sehnsucht nach menschlicher Wärme und Freiheit. Das Gedicht endet mit der drastischen Alternative, lieber zu sterben als weiter unter diesen Umständen zu leben, was die Verzweiflung des Sprechers deutlich macht.

Die emotionale Intensität des Gedichts resultiert aus der direkten Ansprache an den Bruder und der Darstellung des Leidens aus der ersten Person. Schubart nutzt eine einfache, aber eindringliche Sprache, die durch Wiederholungen, rhetorische Fragen und bildhafte Beschreibungen die Tragik des Schicksals des Gefangenen und die Ungerechtigkeit des Handelns seines Bruders hervorhebt. Die Thematik des Gedichts, die Ungerechtigkeit, die Sehnsucht nach Freiheit und die Bedeutung der Brüderlichkeit, macht es zu einem universellen Appell an Mitgefühl und Menschlichkeit.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.