Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Pargoletta

Von

Das Haus ist zwischen tiefen Hecken
auf einen wilden Stein gebaut,
die steilen Lilien verstecken
es Nacht und Tag vor jedem Laut –

Das Land, durch dessen stumme Pforten
der Fremde geht mit bangem Sinn,
bequemt sich tief geheimen Worten:
Ein Kind ist dort die Königin.

Sie geht durch Tau und grüne Wiesen
im Winde, der sie laut umstreicht,
von dunklem Stahle voll Türkisen
die alte Krone trägt sie leicht!

Sie scheint im Lauschen vorgebogen
zu Sprüchen, die im Boden ruhn,
der Mund, geheimnisvoll gezogen,
schweigt Liebliches, wie Blumen tun.

So schön hat sie der Bann bezwungen,
der sich um ihre Hände flicht:
Ein Lied ist über ihr gesungen,
sie sucht sich, und sie kennt sich nicht.

In einem tiefen Schlafe geht sie
durch einen zugewachsenen Hag,
wie die vergessene Kerze weht sie
loh ohne Licht an mitten Tag.

Du brauchst die Spur nicht erst zu finden
darauf sie so versunken glitt:
Vorauf gesandte Tauben binden
schon deinen Schritt an ihren Schritt,

Ziehn dich hinein in die Legende,
dich und den vorgeschriebenen Stein, –
es schließen deine beiden Hände
die Geisterglut des Lebens ein –

o nicht umsonst die rechten Worte
vertraute dir der Mund im Traum,
der Zeigefinger vor dem Horte –
sie wird sich, und sie weiß es kaum,

in einem tiefen Blick erkennen,
wenn der Rubin den Bann zerreißt,
und deinen Namen wird sie nennen,
wenn du das eine Wort noch weißt.

Dann springen die verbotenen Türen:
Die Wiederkunft wird offenbar,
aus Grüften wird der Engel führen
den Stier, den Löwen und den Aar,

ein Winterstern auf Erden walten, –
aus Duft und Stille aufgenährt,
mit deiner Glut und ihrer schalten
die Flamme, hausend auf dem Herd.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Pargoletta von Rudolf Borchardt

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Pargoletta“ von Rudolf Borchardt ist ein poetisches Märchen von großer symbolischer Dichte und geheimnisvoller Atmosphäre. In kunstvoller Sprache entwirft Borchardt die Gestalt eines Mädchens – der „Pargoletta“ –, das zwischen Traum, Legende und mythischer Bedeutung schwebt. Sie ist Königin und Kind zugleich, ein Wesen zwischen den Welten, das in einer entrückten Natur lebt, verborgen, verzaubert und wartend.

Die Bildwelt des Gedichts ist durchzogen von Elementen der Märchen- und Mystiktradition: ein verborgenes Haus, eine alte Krone, geheime Worte, verbotene Türen. Pargoletta erscheint als Sinnbild für ein tiefes, inneres Sehnen, als Trägerin einer Schönheit, die sich selbst nicht kennt, einer Wahrheit, die sich erst im Erkennen durch den anderen erfüllt. Die Natur – Lilien, Wiesen, Tau, Hecken – ist dabei nicht nur Kulisse, sondern Spiegel dieses verborgenen Zaubers.

Der zentrale Spannungsbogen liegt im Verhältnis zwischen dem lyrischen Ich und der geheimnisvollen Gestalt. Dieses Ich ist ein Suchender, ein Auserwählter, dessen Weg zur Pargoletta vorgezeichnet ist – „vorauf gesandte Tauben“ und „der vorgeschriebene Stein“ verweisen auf ein Schicksal, das erfüllt werden muss. Das Wissen um das „eine Wort“, das den Bann lösen kann, hebt den Text in eine mythische Dimension, in der Sprache, Erinnerung und Erkenntnis Macht über Wirklichkeit haben.

Die letzte Strophe bringt eine Auflösung: Wenn der Name ausgesprochen wird, wenn das Wort erinnert wird, dann vollzieht sich die „Wiederkunft“. In biblisch-apokalyptischen Bildern – Stier, Löwe, Adler, Engel – wird ein Moment tiefer Verwandlung beschworen. Die Flamme auf dem Herd, gespeist aus Glut und Stille, markiert die Rückkehr des Verlorenen in das Leben. Damit wird aus der Legende ein innerer Prozess: Die Begegnung mit dem Verborgenen, dem Unbewussten, dem weiblich-mystischen Prinzip führt zur Wiederherstellung von Ganzheit.

„Pargoletta“ ist ein Gedicht voller Rätsel, Anspielungen und symbolischer Tiefe. Es verbindet romantische Sehnsucht, klassische Form und mythische Vision zu einer lyrischen Allegorie über Liebe, Erwachen, Erkenntnis und das geheimnisvolle Zusammenspiel von Traum und Wirklichkeit.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.