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Gedanken über der Zeit

Von

Ihr lebet in der Zeit und kennt doch keine Zeit;
so wißt, ihr Menschen, nicht von und in was ihr seid.
Diß wißt ihr, daß ihr seid in einer Zeit geboren
und daß ihr werdet auch in einer Zeit verloren.
Was aber war die Zeit, die euch in sich gebracht?
Und was wird diese sein, die euch zu nichts mehr macht?
Die Zeit ist was und nichts, der Mensch in gleichem Falle,
doch was dasselbe was und nichts sei, zweifeln alle.
Die Zeit, die stirbt in sich und zeugt sich auch aus sich.
Diß kömmt aus mir und dir, von dem du bist und ich.
Der Mensch ist in der Zeit; sie ist in ihm ingleichen,
doch aber muß der Mensch, wenn sie noch bleibet, weichen.
Die Zeit ist, was ihr seid, und ihr seid, was die Zeit,
nur daß ihr wenger noch, als was die Zeit ist, seid.
Ach daß doch jene Zeit, die ohne Zeit ist, käme
und uns aus dieser Zeit in ihre Zeiten nähme,
und aus uns selbsten uns, daß wir gleich könten sein,
wie der itzt jener Zeit, die keine Zeit geht ein!

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Gedicht: Gedanken über der Zeit von Paul Fleming

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Gedanken über der Zeit“ von Paul Fleming setzt sich philosophisch mit der Natur der Zeit und der menschlichen Existenz auseinander. Der Sprecher stellt gleich zu Beginn die paradoxe Feststellung auf, dass die Menschen zwar in der Zeit leben, sie aber nicht wirklich begreifen. Die Zeit wird als eine unaufhaltsame Kraft dargestellt, die sowohl Geburt als auch Vergänglichkeit bestimmt, ohne dass ihr Wesen wirklich fassbar ist. Damit berührt das Gedicht ein zentrales Thema der Barockdichtung: die Vergänglichkeit allen Seins und die Unsicherheit des menschlichen Daseins.

Besonders auffällig ist die Gegenüberstellung von „was“ und „nichts“, mit der Fleming die Flüchtigkeit der Zeit beschreibt. Die Zeit bringt sich selbst hervor und vergeht zugleich in sich – ein Kreislauf, dem auch der Mensch unterworfen ist. Der Gedanke, dass der Mensch „weniger noch, als was die Zeit ist, sei“, verstärkt die barocke Vanitas-Idee: Der Mensch ist nicht nur vergänglich, sondern in seiner Existenz noch unbedeutender als die Zeit selbst. Damit verweist das Gedicht auf die Ohnmacht des Menschen gegenüber höheren, unergründlichen Mächten.

Der Schluss des Gedichts drückt die Sehnsucht nach einer „Zeit ohne Zeit“ aus, die als eine Art Ewigkeit gedeutet werden kann. Diese jenseitige Zeit wird als Erlösung von der irdischen Vergänglichkeit erhofft, ein klassisches Motiv der christlichen Heilserwartung. Indem das lyrische Ich wünscht, „aus uns selbst“ genommen zu werden, deutet es an, dass die irdische Existenz eine unvollkommene Zwischenstation ist, aus der nur ein höheres Sein erlösen kann. Somit vereint das Gedicht philosophische Reflexion über die Zeit mit barocker Religiosität und dem Wunsch nach einem transzendenten Zustand jenseits der Vergänglichkeit.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.