Ora pro nobis
Heil′ge Dämm′rung waltet durch der Rotunda
Tausendjähr′ge Wölbung, der Geist des Abends
Mahnt zum Beten, mahnet zur letzten Andacht,
Auf den Knieen umher in des Tempels hoher
Rundung liegt das gläubige Volk, und Alles
Tönt einstimmig, Jungfrau, dein Lob und flehet:
Und die Schatten decken auch mich; der Vielen
Sieht mich keiner, wunderbar drängt′s von Innen,
Widerständ′ ich? – Zaubrische Macht, ich kniee,
Immer wiederkehrt der Gesang, der Vorwelt
Schauer kehren wieder mit ihm – o Menschheit,
Sieh′ mich nicht, ich bin – ich bin dein und flehe:
Doch was fühl′ ich! Holde Erinn′rung, bist du′s,
Die mich tief anwandelt, o bitter bist du,
Bitter – denn sie kniete mir einst zur Seite –
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Ora pro nobis“ von Wilhelm Friedrich Waiblinger ist eine tiefgründige Reflexion über Glauben, Erinnerung und die Sehnsucht nach Erlösung. Es spielt in der Atmosphäre einer alten Kirche, einer „Rotunda“ mit „tausendjähr’ger Wölbung“, die eine erhabene und ehrfurchtgebietende Umgebung schafft. Der Autor nutzt diese Kulisse, um die innere Zerrissenheit des Sprechers zu verdeutlichen, der sich inmitten einer betenden Gemeinde mit seinen eigenen, widersprüchlichen Gefühlen auseinandersetzen muss. Der Titel, ein lateinisches Gebet, das die Jungfrau Maria um Fürbitte bittet, unterstreicht die religiöse Thematik und legt den Fokus auf die Suche nach Trost und Vergebung.
Die zentrale Spannung des Gedichts entsteht aus der Konfrontation zwischen dem äußeren, kollektiven Gebet und dem inneren Monolog des Sprechers. Während die Gläubigen „Jungfrau, dein Lob“ singen und um Beistand flehen, ringt der Sprecher mit seinen eigenen Erinnerungen und Emotionen. Er fühlt sich von „wunderbar drängt’s von Innen“ getrieben und kämpft gegen einen inneren Widerstand. Die Frage „Widerständ’ ich?“ zeigt seinen Zwiespalt und seine Ohnmacht angesichts einer unbekannten Macht, die ihn dazu bringt, sich niederzuknien und mit der Gemeinde zu beten. Die Wiederholung des Gesangs und der „Vorwelt Schauer“ unterstreicht die Kraft der Tradition und die tiefe Verbundenheit des Einzelnen mit der Geschichte und dem Glauben.
Die letzte Strophe enthüllt die Quelle der inneren Zerrissenheit des Sprechers: eine „holde Erinn’rung“, die ihn überwältigt. Die Erinnerung an eine Frau, die ihm einst zur Seite kniete, ist von „bitterer“ Natur, was auf unerfüllte Liebe, Verlust oder unerlöste Sehnsucht hindeutet. Diese Erinnerung verwebt sich mit dem religiösen Kontext und zeigt, wie persönliche Erfahrungen und Emotionen die Wahrnehmung von Glauben und Erlösung beeinflussen. Der Sprecher, der sich zunächst als Teil der betenden Gemeinde fühlte, wird durch die Erinnerung aus dieser Gemeinschaft herausgerissen und mit seinem eigenen, ungelösten Leid konfrontiert.
Die Struktur des Gedichts, mit seinen drei jeweils dreistrophigen Teilen, verstärkt die Wirkung. Die Sprache ist eindringlich und poetisch, mit Bildern wie der „heil’gen Dämm’rung“, den „Schatten“ und der „Zaubrischen Macht“, die eine Atmosphäre der Mystik und des Geheimnisvollen erzeugt. Die Verwendung von Fragen, Ausrufen und direkten Ansprachen intensiviert die emotionale Wirkung und ermöglicht es dem Leser, die innere Zerrissenheit des Sprechers nachzuempfinden. Waiblinger verbindet gekonnt religiöse Elemente mit persönlichen Erfahrungen und schafft so ein Gedicht, das von der Suche nach Trost, der Kraft der Erinnerung und der menschlichen Sehnsucht nach Erlösung handelt.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.