Als den Elias unsrer Zeit,
Als ein Cherubswagen
Ins Reich von Christus Herrlichkeit
In sanftem Säuseln aufgetragen,
Ließ er den Mantel schnell von Strahlenschultem fliegen;
Er wogte durch die Luft herab –
Und blieb an des Propheten Grab
In sanftem Mondenschimmer liegen.
Viel Modeweise unsrer Zeit,
Zu blind für verborgne Herrlichkeit,
Und stolz auf ihr Gewand von Spinneweben,
Verachteten den Mantel; ihn
Vom Grab nur aufzuheben,
War viel zu klein für ihren stolzen Sinn.
Auch kam auf seinem Riesengange
Zum Hügel , und funkelt lange
Mit Augenblitz den Mantel an;
Doch wandelt′ er mit kühnen Schritten
Bald wieder fort auf seiner Bahn,
Und dacht′: Mein Mantel ist aus gleichem Stoff geschnitten.
Auch , des Todten Jünger kam, und stumm
Blieb er am Hügel seines Lehrers stehen;
Sah demuthsvoll hinauf zu Gottes Höhen,
Bückt′ sich, und warf den Mantel um.
Oetingers Mantel
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Oetingers Mantel“ von Christian Friedrich Daniel Schubart ist eine allegorische Betrachtung über das Erbe, die Nachfolge und die Wertschätzung von spiritueller Führung. Die zentrale Metapher des Mantels, zurückgelassen von dem verstorbenen Elias (Oetinger, vermutlich eine Anspielung auf den Theologen Friedrich Christoph Oetinger), symbolisiert das Vermächtnis, die Lehren und die spirituelle Autorität, die ein Lehrer hinterlässt.
Der erste Teil des Gedichts, in dem der Mantel in sanftem Mondenschimmer am Grab des Propheten liegt, deutet auf die Erhabenheit und den Wert des Erbes hin. Der Mantel wird jedoch von den „Modeweisen unsrer Zeit“ verschmäht, die von „Spinneweben“ bedeckt sind, was auf ihre Oberflächlichkeit und die Wertlosigkeit ihrer weltlichen Ambitionen hindeutet. Sie sind zu sehr mit ihren eigenen, vergänglichen Angelegenheiten beschäftigt, um die Bedeutung des Mantels zu erkennen und ihn anzunehmen. Dieses Missachten des Mantels verdeutlicht die Kritik an einer Gesellschaft, die sich von traditionellen Werten und spiritueller Tiefe entfernt hat.
Die nachfolgenden Strophen illustrieren verschiedene Reaktionen auf den Mantel. Der „Riese“, möglicherweise eine Anspielung auf eine mächtige Persönlichkeit, betrachtet den Mantel zwar mit einem „Augenblitz“, geht aber weiter, da er seinen eigenen Mantel für gleichwertig hält. Dies deutet auf Selbstüberschätzung und die Unfähigkeit, die wahre Bedeutung des Erbes zu erkennen, hin. Erst der „Todten Jünger“, also der wahrhaftige Schüler oder Nachfolger, versteht die wahre Bedeutung des Mantels. Er nähert sich dem Mantel in Demut, wirft ihn sich um und nimmt somit das Erbe an. Dies symbolisiert die Bereitschaft zur Nachfolge, zur Akzeptanz und zur Weitergabe der Lehren des Meisters.
Die Sprache des Gedichts ist gehoben und feierlich, mit Bildern, die an religiöse und spirituelle Traditionen erinnern. Schubart nutzt eine Vielzahl von Bildern wie „Cherubswagen“, „Strahlenschultem“ und „Mondenschimmer“, um eine Atmosphäre der Ehrfurcht und Erhabenheit zu schaffen. Der Rhythmus und die Reimstruktur unterstützen die Ernsthaftigkeit der Botschaft und unterstreichen die Bedeutung des Erbes und der spirituellen Nachfolge. Das Gedicht ist eine Mahnung, die überzeitliche Werte zu erkennen und anzunehmen, statt sich von oberflächlichen und vergänglichen Dingen ablenken zu lassen.
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Lizenz und Verwendung
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