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Neujahrsnachtfahrt

Von

Wenn du nachts in ein Auto steigst
Und dir ist bang und winterlich zu Mut,
Und du dem Chauffeur die Richtung zeigst,
Und sagst: „Sie fahren gut.“

Wenn du so den Kopf des Wagenlenkers lenkst,
Daß er′s gar nicht gewahrt,
Wie du traurig bist und an Sterben denkst, –
Das ist nächtliche Fahrt.

Draußen leuchtet Volk und lacht und schießt.
Mitlächelnd denkst du fremdwärts still
An etwas, was du vom Flugzeug aus siehst,
An ein Flüßchen, das unter dir weit fließt
Sohin, dorthin, wo es muß; nicht will.

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Gedicht: Neujahrsnachtfahrt von Joachim Ringelnatz

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Neujahrsnachtfahrt“ von Joachim Ringelnatz entwirft eine melancholische Betrachtung über die menschliche Existenz und die Vergänglichkeit des Lebens, eingebettet in die Szenerie einer nächtlichen Autofahrt. Der erste Teil etabliert eine intime, fast beiläufige Situation: Der Dichter steigt in ein Auto, fühlt sich unsicher und winterlich gestimmt, und gibt dem Fahrer Anweisungen, während er ihm gleichzeitig indirekt seine Wertschätzung ausspricht. Diese anfängliche Beschreibung, die von einem Gefühl der Beklemmung und Einsamkeit durchzogen ist, bildet den Kontrast zum lebhaften Treiben draußen und ebnet den Weg für die tiefergehenden Betrachtungen des Dichters.

Im zweiten Teil des Gedichts spitzt sich die Stimmung zu. Die Autofahrt wird als Metapher für das Leben selbst gedeutet: Der Dichter lenkt, ohne dass der Fahrer es bemerkt, die Richtung des Fahrzeugs, was die passive Rolle des Fahrers und die resignative Akzeptanz des Dichters von seinem eigenen Schicksal verdeutlicht. Die Zeilen „Wie du traurig bist und an Sterben denkst, – / Das ist nächtliche Fahrt“ fassen die Kernbotschaft des Gedichts zusammen. Die Fahrt wird zu einem Spiegelbild der menschlichen Erfahrung – geprägt von Melancholie, der Auseinandersetzung mit dem Tod und dem Gefühl der Unausweichlichkeit des Schicksals.

Die letzten Verse bieten einen Kontrast zum fröhlichen Treiben des Jahreswechsels, das draußen stattfindet. Der Dichter, in sich gekehrt, betrachtet das bunte Treiben, denkt aber an ein Fließen, das nicht frei ist, sondern seinem Lauf folgen muss. Das Bild des Flusses aus der Vogelperspektive verstärkt die Distanziertheit und das Gefühl der Überlegenheit, aber auch der Ohnmacht. Es unterstreicht die Vergänglichkeit und die Richtungslosigkeit des menschlichen Lebens, das letztlich einem vorgegebenen Weg folgen muss, wie ein Fluss, der unaufhaltsam dem Meer zustrebt.

Ringelnatz gelingt es, durch die einfache Sprache und die alltägliche Szenerie eine tiefe Reflexion über die menschliche Condition zu erzeugen. Das Gedicht ist nicht nur eine Beschreibung einer nächtlichen Autofahrt, sondern eine Meditation über die eigene Sterblichkeit, das Gefühl der Entfremdung und die Suche nach dem Sinn in einer Welt, die von flüchtigem Glück und unabwendbarem Schicksal geprägt ist. Die Verwendung von Bildern der Bewegung – der Fahrt und des Flusses – unterstreicht die Flüchtigkeit des Lebens und die Unaufhaltsamkeit des Todes.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.