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Neujahrsgruß

Von

Ans Tor des Türmers hab′ ich heut
gepocht mit lautem Rufen:
»Komm, führe mich vor Mitternacht
zum Turm hinauf die Stufen!
Denn ein Gelüsten treibt mich heut,
mit mächtig hallendem Geläut
die Welt zu meinen Füßen
zu grüßen.«

Und an des Alten Seite stumm
bin ich emporgestiegen.
Tief lag die Erde schneeverhüllt,
geruhig und verschwiegen.
Die weite Stadt – ein Lichtermeer!
Das blinkte hold von unten her
wie goldnes Sterngewimmel
vom Himmel.

Und oben hab′ ich tiefen Zugs
den Hauch der Nacht getrunken;
berauscht von tausend Bildern, ist
mein Geist in sich versunken -:
Jed′ Licht dort unten scheint ihm da
ein Auge, das ins Ferne sah,
an Tagen, die vergangen,
zu hangen.

Und jeder Blick erspähte bald
aus grauem Nebeldampfe
ein eignes und besondres Bild
vom ewigen Erdenkampfe.
Wie manche leise Träne rann…
Wie manches feste Herz begann
in still erneuten Fluten
zu bluten!…

Hob sich aus fernem Dunkel nicht
hier – dort – ein Totenhügel?
Flog nicht ein freundlich Antlitz her
auf traumbewegtem Flügel?
O ja, in stiller Neujahrsnacht
der Toten wird zuerst gedacht,
der Lieben, die im Hafen
nun schlafen.

Doch mehr als Tod ist Lebensnot –
horch, horch – in mancher Kammer
gellt jäh durch die Erinnerung
ein lauter, wilder Jammer!
Ein nie verglommnes Weh entfacht
so manchem diese stille Nacht,
dem alles, was er träumte,
zerschäumte.

Und ewig Kampf und ewig Streit
mit Leiden und Gefahren,
mit Elend, Krankheit, Lug und Trug
seit tausend, tausend Jahren!
Und war′s ein Jahr des Glücks vielleicht,
so hat′s uns doch das Haar gebleicht,
so ist es doch verronnen –
zerronnen –

Wir kämpfen mit der Nagerin,
der Zeit, der nimmermüden –
still! War mir′s doch, als ob zur Lust
von fern Gesänge lüden –
fürwahr: ein leises Kling und Klang…
Zum Mund mit Jubel und Gesang
den Trank voll Glut und Leben
sie heben!…

Ja! Eine Freudensonne glüht
inmitten wilden Krieges:
In allen edlen Herzen ist′s
die Zuversicht des Sieges!
Doch wo das Schwert, das ihn erwirbt,
das jeden Höllengeist verdirbt?
Wo glänzt die blanke Wehre,
die hehre?

Nun Mitternacht! – Da ließ ich weit
die Glocke donnernd schwingen,
und meine Seele schrie hinein
mit Beben und mit Klingen:
Sie soll uns Schwert des Lichtes sein,
die reine Siegerin allein
in Nacht- und Sturmgetriebe:
Die Liebe.

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Gedicht: Neujahrsgruß von Otto Ernst

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Neujahrsgruß“ von Otto Ernst ist eine tiefgründige Betrachtung über das vergangene Jahr und ein Ausblick auf die Zukunft, eingebettet in die Szenerie einer Neujahrsnacht. Der Ich-Erzähler, angetrieben von einem „Gelüsten“, steigt mit einem alten Türmer auf einen Turm, um die Welt zu betrachten und das neue Jahr mit einem Glockengeläut zu begrüßen. Die Beschreibung der verschneiten Erde und des Lichtermeers der Stadt unterstreicht die besinnliche Stimmung und das Gefühl der Weite.

Die Beobachtung der Stadt aus der Höhe führt zu einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und dem menschlichen Leid. Die Lichter werden als Augen interpretiert, die in die Ferne blicken und an vergangene Tage erinnern. Der Erzähler sieht Bilder des ewigen Erdenkampfes, des Leids und der Trauer, was durch die Metaphern von Totenhügeln und flüchtenden Gesichtern der Toten verdeutlicht wird. Das Gedicht thematisiert auch die Lebensnot und den Jammer, der in den Erinnerungen an vergangene Träume und Hoffnungen aufscheint.

Trotz der melancholischen Betrachtungen findet der Erzähler Trost und Hoffnung. Er erkennt den ewigen Kampf gegen die Zeit, aber auch die Möglichkeit von Freude und Zuversicht. Die „Freudensonne“ in den edlen Herzen symbolisiert die Hoffnung auf den Sieg im Kampf gegen das Leid. Der Erzähler sucht nach dem „Schwert des Lichtes“, der „blanken Wehre“, die den Höllengeist vertreiben kann.

Das Gedicht kulminiert im Geläut der Glocke, das die Seele des Erzählers in die Nacht hinausschreit. Die Glocke wird als „Schwert des Lichtes“ identifiziert, das die „reine Siegerin“ ist. Diese Siegerin ist die Liebe, die in der Dunkelheit und dem Sturmgetriebe als einzige Hoffnung und Lösung für die menschlichen Leiden erstrahlt. Das Gedicht endet mit einer positiven Botschaft, die die Bedeutung der Liebe als treibende Kraft und als Wegweiser durch die Widrigkeiten des Lebens hervorhebt.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.