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Neujahr

Von

Herr, o Herr, soll größer noch
Deine Kette werden?
Reicht sie von dem Himmel doch
Längst herab zur Erden!
Wieder, weil ein Jahr verging,
Sprudelt man Sonette,
Singt von einem neuen Ring
An der alten Kette.

Kette, o du klirrend Bild,
Schreckwort aller Zungen,
Welch ein Gott hat grausam wild
Dich ums All geschlungen?
Daß er seine Sterne wohl
Vor dem Falle rette,
Muß der Ewigkeit Symbol
Bleiben eine Kette?

Kann der Jahre Trauerschar,
Herr, dir nicht genügen?
Wirst du immer, immerdar
Ring zum Ringe fügen?
Endigt nie der Menschheit Qual?
Hebt sie nie ihr Bette?
Wächst sie nie, der Freien Zahl?
Wächst nur deine Kette?

Fragend schaut′ ich manche Nacht
Auf zu deinen Hallen;
Endlich, hab′ ich oft gedacht,
Muß die Kette fallen.
Ach! mein Hoffen trieb im Sturm
Auf dem letzten Brette,
Und ward, ein getretner Wurm,
Auch ein Ring der Kette.

Herr, o spare deinen Grimm
Fürder den Tyrannen,
Einmal mit dem Jahre nimm
Einen Ring von dannen!
Gib uns, was wir heiß gesucht,
Trüg′s auch Dorn und Klette,
Mindre nur die schwere Wucht
Deiner goldnen Kette!

Nimm, die sie so lang umfing,
Nimm sie von der Erden;
Laß der Kette letzten Ring
Freiheitsbrautring werden!
Höre unser banges Schrein:
Herr, o Herr, errette,
Und den Teufel laß allein
Ewig an der Kette!

Ja! du wirst. Schon seh′ ich, traun!
Neue Sterne ziehen,
Neue Tempel seh′ ich baun,
Neue Völker knieen;
Donnerklang und Harfenton
Rufen in die Mette –
Still! die Engel opfern schon
Einen Ring der Kette.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Neujahr von Georg Herwegh

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Neujahr“ von Georg Herwegh ist eine Anklage und ein Appell zur Hoffnung, verfasst in einer Zeit politischer Repression und gesellschaftlicher Ungerechtigkeit. Es nutzt das Bild der „Kette“ als Metapher für Unterdrückung und Zwang, die von Gott als allmächtiger Instanz über die Menschheit gelegt wird. Das Gedicht beginnt mit einer direkten Anrede an „Herr, o Herr“, wodurch eine klagende und flehende Haltung zum Ausdruck gebracht wird.

Die Kette, die sich von Himmel bis zur Erde erstreckt, symbolisiert die allgegenwärtige und scheinbar unaufhaltsame Macht der Autorität und die daraus resultierende Unterdrückung. Herwegh fragt, ob diese Kette noch verlängert werden soll, und kritisiert die scheinbar endlosen „Sonette“, die zum Jahreswechsel verfasst werden und die bestehende Ordnung beschönigen. Die Kette steht für die Hoffnungslosigkeit und die scheinbare Unveränderlichkeit der Verhältnisse. Die wiederholte Frage nach dem Ende der menschlichen Qual und dem Wachstum der Freiheit unterstreicht die Dringlichkeit des Wunsches nach Veränderung.

In den letzten beiden Strophen nimmt das Gedicht eine Wendung vom flehenden Appell zur Vision der Hoffnung. Der Dichter reflektiert über seine eigenen vergeblichen Hoffnungen und seine eigene Ernüchterung, die ihn schließlich zu einem Teil der Kette werden ließ. Dies ist Ausdruck einer tiefgreifenden Verzweiflung, die durch die Erfahrung der politischen Ohnmacht gespeist wird. Doch trotz dieser Erkenntnis mündet das Gedicht in einer Aufforderung an Gott, seinen Zorn auf die Tyrannen zu lenken und zumindest einen Ring der Kette zu entfernen.

Der Schluss ist durch eine erhoffte Veränderung gekennzeichnet. Die Vision einer befreiten Menschheit, repräsentiert durch „Freiheitsbrautring“, suggeriert das Ende der Unterdrückung und den Beginn einer neuen Ära. Die Worte „Neue Sterne ziehen“ und „Neue Völker knieen“ deuten auf einen umfassenden Wandel hin, der durch den „Donnerklang und Harfenton“ begleitet wird. Das Gedicht endet mit dem Bild von Engeln, die einen Ring der Kette opfern, was die Hoffnung auf eine himmlische Intervention und die Errichtung einer gerechteren Ordnung symbolisiert. Herwegh verknüpft hier die menschliche Sehnsucht nach Freiheit mit der Hoffnung auf eine göttliche Erhörung und macht das Gedicht zu einem eindringlichen Appell für Veränderung.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.