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Musen und Grazien in der Mark

Von

O wie ist die Stadt so wenig;
Laßt die Maurer künftig ruh′n!
Unsre Bürger, unser König
Könnten wohl was Bessers tun.
Ball und Oper wird uns töten;
Liebchen, komm auf meine Flur!
Denn besonders die Poeten,
Die verderben die Natur.

O wie freut es mich, mein Liebchen,
Daß du so natürlich bist!
Unsre Mädchen, unsre Bübchen
Spielen künftig auf dem Mist.
Und auf unsern Promenaden
Zeigt sich erst die Neigung stark.
Liebes Mädchen! laß uns waten,
Waten noch durch diesen Quark.

Dann im Sand uns zu verlieren,
Der uns keinen Weg versperrt!
Dich den Anger hin zu führen,
Wo der Dorn das Röckchen zerrt!
Zu dem Dörfchen laß uns schleichen
Mit dem spitzen Turme hier;
Welch ein Wirtshaus sondergleichen!
Trocknes Brot und saures Bier!

Sagt mir nichts von gutem Boden,
Nichts vom Magdeburger Land!
Unsre Samen, unsre Toten,
Ruhen in dem leichten Sand.
Selbst die Wissenschaft verlieret
Nichts an ihren! raschen Lauf;
Denn bei uns, was vegetieret,
Alles keimt getrocknet auf.

Geht es nicht in unserm Hofe
Wie im Paradiese zu?
Statt der Dame, statt der Zofe
Macht die Henne glu! glu! glu!
Uns beschäftigt nicht der Pfauen,
Nur der Gänse Lebenslauf;
Meine Mutter zieht die grauen,
Meine Frau die weißen auf.

Laß den Witzling uns besticheln!
Glücklich, wenn ein deutscher Mann
Seinem Freunde Vetter Micheln
Guten Abend bieten kann.
Wie ist der Gedanke labend:
„Solch ein Edler bleibt uns nah!“
Immer sagt man: „Gestern abend
War doch Vetter Michel da!“

Und in unsern Liedern keimet
Silb aus Silbe, Wort aus Wort.
Ob sich gleich auf Deutsch nichts reimet,
Reimt der Deutsche dennoch fort.
Ob es kräftig oder zierlich,
Geht uns so genau nicht an;
Wir sind bieder und natürlich,
Und das ist genug getan.

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Gedicht: Musen und Grazien in der Mark von Johann Wolfgang von Goethe

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Musen und Grazien in der Mark“ von Johann Wolfgang von Goethe ist eine humorvolle Satire auf das provinziell-spießige Leben im ländlichen Brandenburg, fernab der kulturellen Zentren. Goethe entlarvt mit Ironie die vermeintliche Idylle, die durch eine Reduktion auf das Wesentliche, die Ablehnung von Luxus und die Betonung von Natürlichkeit gekennzeichnet ist. Die Stadt wird als „so wenig“ bezeichnet, im Kontrast zur Natur, die als der wahre Ort des Glücks und der Erholung gepriesen wird.

Die Ironie wird durch die Überzeichnung der „natürlichen“ Lebensweise verstärkt. Das Gedicht beschreibt eine Welt, in der die Künste, die Wissenschaft und die feine Gesellschaft zugunsten einer einfachen, bäuerlichen Existenz abgelehnt werden. Die Erwartung von „Ball und Oper“ wird durch die Sehnsucht nach der „Flur“ und dem „Mist“ ersetzt. Die Beschreibungen von „trockenem Brot und saurem Bier“ sowie die Fokussierung auf das Alltagsleben von Hühnern und Gänsen verdeutlichen die Abkehr von jeglicher Form von Verfeinerung und Genuss. Das Gedicht persifliert somit das Ideal der Einfachheit und der Natürlichkeit, indem es dessen extreme Ausformung darstellt.

Die sprachliche Gestaltung des Gedichts trägt zur satirischen Wirkung bei. Der lockere, umgangssprachliche Ton, die scheinbar einfache Reimstruktur und die vermeintlich bescheidene Formensprache spiegeln die vermeintliche Einfachheit des Lebens wider. Gleichzeitig werden durch die Ironie und die bewusste Verwendung von Klischees die Grenzen dieser Lebensweise aufgezeigt. Die Betonung der Biederkeit, der Natürlichkeit und der regionalen Eigenheiten, wie etwa die fehlende Reimfähigkeit im Deutschen, werden ironisch kommentiert.

Das Gedicht ist auch eine Kritik an der Enge des provinziellen Denkens. Der Verweis auf den „Vetter Michel“, der als Inbegriff des einfachen Mannes gilt, und die ständige Wiederholung von banalen Alltagsbegebenheiten zeugen von der Begrenzung des Horizonts und der fehlenden Offenheit für Neues. Goethe zeigt, wie die vermeintliche „Biederkeit“ und „Natürlichkeit“ letztlich in eine geistige und kulturelle Stagnation münden können. Das Gedicht regt dazu an, über die Grenzen der vermeintlichen Einfachheit und über die Gefahren des Rückzugs in eine abgeschlossene Welt nachzudenken.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.