Morgentöne
Guten Morgen! schreit das Menschentier;
Und mancher Schuft trinkt jetzt noch Bier.
Guten Morgen! schreit auch der Tyrann;
Früh fängt Er zu regieren an.
An den Weltrand will ich heute gahn;
Dort will ich einmal Fliegen fahn.
Guten Morgen! schreit der Kriegersmann;
Ach, der ist immerzu im Tran.
Guten Morgen! schreit man dort und hier;
Und meine Uhr schlägt schon halb vier.
Und mancher Schuft trinkt jetzt noch Bier;
Guten Morgen! schreit das Menschentier.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Morgentöne“ von Paul Scheerbart ist ein kurzes, humorvolles Gedicht, das die Eintönigkeit und den scheinbaren Irrsinn des menschlichen Alltags am Morgen aufgreift. Es zeichnet sich durch eine einfache, fast kindliche Sprache aus, die jedoch mit subtiler Ironie und Gesellschaftskritik aufgeladen ist. Die Wiederholung des Morgengrußes „Guten Morgen!“ bildet den Rahmen des Gedichts und unterstreicht die Gleichförmigkeit des Erlebten.
Die Struktur des Gedichts ist ebenso repetitiv wie die Grußformel selbst. Jede der fünf Strophen beginnt mit „Guten Morgen!“ und stellt dann eine spezifische Figur oder eine Aktivität vor. Die gewählten Beispiele – „Menschentier“, „Tyrann“, „Kriegersmann“ und „Schuft“ – repräsentieren verschiedene Aspekte der menschlichen Gesellschaft, wobei deren Tätigkeiten oder Zustände kritisch beleuchtet werden. Der „Schuft“, der morgens noch Bier trinkt, der „Tyrann“, der früh zu regieren beginnt, und der „Kriegersmann“, der stets im Tran ist, werden als Typen von Menschen dargestellt, deren Verhalten im Kontext des Morgenrituals als merkwürdig oder negativ bewertet wird.
Der Vers „An den Weltrand will ich heute gahn; / Dort will ich einmal Fliegen fahn“ stellt eine interessante Ausnahme dar. Er bricht aus der Monotonie der anderen Strophen aus und deutet auf ein Bedürfnis nach Flucht oder Abenteuer hin. Dieser Wunsch, über den Tellerrand hinauszuschauen, kontrastiert mit der vorherrschenden Gleichförmigkeit. Das „Fliegen fahn“ kann als Symbol für Freiheit und das Überwinden von Grenzen interpretiert werden.
Der humorvolle Twist am Ende – die Wiederholung des Anfangs und die Aussage, dass „mancher Schuft trinkt jetzt noch Bier“ – verstärkt den zirkulären Charakter des Gedichts. Es suggeriert, dass der Kreislauf der morgendlichen Routinen und der darin eingebetteten „Schurken“ kein Ende findet. Die letzte Zeile, die mit dem Schreien des „Menschentiers“ endet, kehrt zum Anfang zurück und betont, dass das Morgenritual, mit all seinen Widersprüchen und Kuriositäten, sich stets wiederholt. Scheerbart liefert eine spielerische, aber tiefgründige Beobachtung des Alltagslebens, die sowohl zum Schmunzeln anregt als auch zum Nachdenken anregt.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.