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Lucie

Von

Ich seh sie noch, ihr Büchlein in der Hand,
Nach jener Bank dort an der Gartenwand
Vom Spiel der andern Kinder sich entfernen;
Sie wußte wohl, es mühte sie das Lernen.

Nicht war sie klug, nicht schön; mir aber war
Ihr blaß Gesichtchen und ihr blondes Haar,
Mir war es lieb; aus der Erinnrung Düster
Schaut es mich an; wir waren recht Geschwister.

Ihr schmales Bettchen teilte sie mit mir,
Und nächtens Wang an Wange schliefen wir;
Das war so schön! Noch weht ein Kinderfrieden
Mich an aus jenen Zeiten, die geschieden.

Ein Ende kam; – ein Tag, sie wurde krank
Und lag im Fieber viele Wochen lang;
Ein Morgen dann, wo sanft die Winde gingen,
Da ging sie heim; es blühten die Syringen.

Die Sonne schien; ich lief ins Feld hinaus
Und weinte laut; dann kam ich still nach Haus.
Wohl zwanzig Jahr und drüber sind vergangen –
An wieviel anderm hat mein Herz gehangen!

Was hab ich heute denn nach dir gebangt?
Bist du mir nah und hast nach mir verlangt?
Willst du, wie einst nach unsern Kinderspielen,
Mein Knabenhaupt an deinem Herzen fühlen?

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Gedicht: Lucie von Theodor Storm

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Lucie“ von Theodor Storm ist eine melancholische Erinnerung an die Kindheit und den frühen Tod einer geliebten Schwesterfigur. Das lyrische Ich blickt auf seine Kindheit zurück und evoziert Bilder von Lucie, die, trotz ihrer Unscheinbarkeit, eine tiefe emotionale Bedeutung für den Erzähler besaß. Die ersten Strophen beschreiben Lucies Alltag, ihr Wesen und die innige Beziehung der Geschwister. Die einfache Sprache und die klaren Bilder – Lucie mit ihrem Buch, die gemeinsame Bank im Garten, das geteilte Bettchen – schaffen eine intime und persönliche Atmosphäre.

Das Gedicht nimmt eine Wendung, als die Krankheit und der Tod Lucies thematisiert werden. Die Beschreibung der Krankheit und des Abschieds ist von großer Trauer geprägt, die durch die blühenden Syringen, ein Symbol des Frühlings und des Lebens, noch verstärkt wird. Der Kontrast zwischen dem Tod Lucies und der Schönheit der Natur verstärkt die Tragik und die Unabwendbarkeit des Schicksals. Der letzte Teil der vierten Strophe, „Da ging sie heim; es blühten die Syringen“, ist besonders eindrücklich und vermittelt ein Gefühl von Verlust und Leere.

Die anschließenden Strophen reflektieren die verstreichende Zeit und die vielen Jahre, die seit Lucies Tod vergangen sind. Das lyrische Ich gesteht, dass sein Herz sich im Laufe der Zeit an andere Menschen geheftet hat, doch die Erinnerung an Lucie bleibt lebendig und von bleibender Bedeutung. Die abschließenden Zeilen sind von Sehnsucht und dem Wunsch nach einer Wiedervereinigung geprägt. Die Frage, ob Lucie ihm nahe ist und nach ihm verlangt, zeugt von einer tiefen Verbundenheit, die selbst über den Tod hinaus besteht.

Storm nutzt in diesem Gedicht eine einfache, aber eindringliche Sprache, um die großen Themen des Lebens – Kindheit, Verlust, Erinnerung und Sehnsucht – zu behandeln. Die Verwendung von Reimschema und Metrum verstärkt den musikalischen Charakter des Gedichts und trägt zur Intensivierung der Emotionen bei. Die Naturbilder, insbesondere die blühenden Syringen, dienen als Kontrapunkt zur Trauer und unterstreichen die Vergänglichkeit des Lebens. Insgesamt ist „Lucie“ ein berührendes Gedicht über die Liebe und den Verlust, das durch seine Einfachheit und Ehrlichkeit nachhaltig berührt.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.