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Lehrsatz

Von

Die Sonne scheint; laß ab von Liebeswerben!
Denn Liebe gleicht der scheuesten der Frauen;
Ihr eigen Antlitz schämt sie sich zu schauen,
Ein Rätsel will sie bleiben, oder sterben.
Doch wenn der Abend still herniedergleitet,
Dann naht das Reich der zärtlichen Gedanken;
Wenn Dämmrung süß verwirrend sich verbreitet
Und alle Formen ineinander schwanken,
Dann irrt die Hand, dann irrt der Mund gar leicht,
Und halb gewagt, wird alles ganz erreicht.

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Gedicht: Lehrsatz von Theodor Storm

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Lehrsatz“ von Theodor Storm untersucht die Natur der Liebe und formuliert eine indirekte Warnung vor ihrem unkontrollierten Wesen. Es beginnt mit einer direkten Anrede und einem Appell: „Die Sonne scheint; laß ab von Liebeswerben!“ Dieser eröffnende Vers deutet auf eine Tageszeit und Stimmung hin, die ungeeignet für Liebeswerbung ist. Die Metapher der „scheuesten der Frauen“ für die Liebe etabliert sofort eine ambivalente Sichtweise: Liebe ist schüchtern und scheut die Öffentlichkeit, was sie zu einem schwer fassbaren Objekt der Begierde macht.

Die nächsten Zeilen vertiefen diese Vorstellung. Die Liebe „schämt sich, ihr eigen Antlitz zu schauen“ und will entweder ein „Rätsel bleiben, oder sterben“. Dies deutet auf eine Sehnsucht nach Geheimnis und eine Abneigung gegen Offenheit hin. Liebe gedeiht nicht im hellen Licht, sondern in der Dunkelheit der Unkenntnis und des Geheimnisses. Die Verwendung des Wortes „sterben“ impliziert, dass die Liebe, wenn sie zu offen und greifbar wird, ihren Reiz verliert oder sogar erlischt. Dies legt nahe, dass Storm die Liebe als etwas Flüchtiges und Geheimnisvolles sieht, das in der direkten Konfrontation mit der Realität Gefahr läuft, zerstört zu werden.

Der Übergang zum Abend, beschrieben als „still“ und als „Reich der zärtlichen Gedanken“, markiert eine entscheidende Veränderung. Die „Dämmrung“ verwirrt die Sinne und lässt „alle Formen ineinander schwanken“. In dieser Umgebung finden die Sinne und die Moral ihren Halt nicht mehr. In dieser Atmosphäre von Zweifeln und Unschärfen, in der Grenzen verschwimmen, folgen die Hand und der Mund, der Versuchung nachgebend. „Und halb gewagt, wird alles ganz erreicht.“ Diese Zeile suggeriert, dass die scheinbar vorsichtige Annäherung in der Dämmerung, ohne Hemmungen, zu einer vollständigen Erfüllung der Sehnsüchte führt.

Storms „Lehrsatz“ ist keine einfache Ablehnung der Liebe, sondern eine subtile Reflexion über ihre Natur. Er warnt vor vorschnellen Handlungen, die unter der Herrschaft des Tageslichts unternommen werden. Stattdessen plädiert er für ein behutsames Herantasten in der dunklen Stille der Nacht. Das Gedicht zeigt die doppelte Natur der Liebe: ihre Fähigkeit zu verzaubern, aber auch ihre Fähigkeit, gefährlich zu sein, wenn sie nicht mit Vorsicht behandelt wird.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.