Angst, Einsamkeit, Emotionen & Gefühle, Freiheit & Sehnsucht, Frieden, Gedanken, Jahreszeiten, Krieg, Liebe & Romantik, Natur, Unschuld, Wagnisse, Zauber, Zerstörung, Zuhause
Land im Herbste
Die alte Heimat seh′ ich wieder,
Gehüllt in herbstlich feuchten Duft;
Er träufelt von den Bäumen nieder,
Und weithin dämmert grau die Luft.
Und grau ragt eine Flur im Grauen,
Drauf geht ein Mann mit weitem Schritt
Und streut, ein Schatten nur zu schauen,
Ein graues Zeug, wohin er tritt.
Ist es der Geist verschollner Ahnen,
Der kaum erstrittnes Land besät,
Indes zu seiten seiner Bahnen
Der Speer in brauner Erde steht?
Der aus vom Kampf noch blut′gen Händen
Die Körner in die Furche wirft,
So mit dem Pflug von End′ zu Enden
Ein jüngst vertriebnes Volk geschürft?
Nein, den Genossen meines Blutes
Erkenn′ ich, da ich ihm genaht,
Der langsam schreitend, schweren Mutes
Die Flur bestäubt mit Aschensaat.
Die müde Scholle neu zu stärken,
Lässt er den toten Staub verwehn;
So seh′ ich ihn in seinen Werken
Gedankenvoll und einsam gehn.
Grau ist der Schuh an seinem Fusse,
Grau Hut und Kleid, wie Luft und Land;
Nun reicht er mir die Hand zum Grusse
Und färbt mit Asche mir die Hand.
Das alte Lied, wo ich auch bliebe,
Von Mühsal und Vergänglichkeit!
Ein wenig Freiheit, wenig Liebe,
Und um das Wie der arme Streit!
Wohl hör′ ich grüne Halme flüstern
Und ahne froher Lenze Licht!
Wohl blinkt ein Sichelglanz im Düstern,
Doch binden wir die Garben nicht!
Wir dürfen selbst das Korn nicht messen,
Das wir gesät aus toter Hand;
Wir gehn und werden bald vergessen,
Und unsre Asche fliegt im Land!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Land im Herbste“ von Gottfried Keller ist eine melancholische Reflexion über Vergänglichkeit, Arbeit und die Verbindung zur Heimat. Das Gedicht ist in einem einfachen, aber eindringlichen Stil verfasst, der die Atmosphäre des Herbstes und die innere Stimmung des Beobachters einfängt. Es beschreibt eine Szene der herbstlichen Feldarbeit, die als Metapher für menschliche Anstrengung, das Kreislauf von Leben und Tod und die Vergänglichkeit alles Irdischen gedeutet werden kann.
Die ersten Strophen etablieren die herbstliche Umgebung: feuchte Luft, graue Dämmerung und eine graue Flur. Der „Mann mit weitem Schritt“, der „graues Zeug“ sät, zieht die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich. Die anfängliche Frage, ob es der Geist der Ahnen ist, der das Land erneut besät, deutet auf eine tiefe Verbundenheit mit der Vergangenheit und der mühsamen Arbeit der Vorfahren hin. Diese Frage wird durch die Beschreibung des Mannes, der aus blutigen Händen Korn in die Furche wirft, noch verstärkt, was auf eine Verbindung von Arbeit und Opfern hindeutet.
Die Auflösung in der fünften Strophe zeigt, dass es nicht ein Geist ist, sondern ein „Genosse meines Blutes“, der mit Asche das Land bestreut. Die Asche symbolisiert hier nicht nur den Herbst, sondern auch die Vergänglichkeit und den Tod, der das Leben begleitet. Die Arbeit des Mannes wird als Versuch dargestellt, die müde Scholle neu zu stärken, was ein Ausdruck der Hoffnung und des Überlebens inmitten der Traurigkeit darstellt. Die Farbe Grau, die sich durch das gesamte Gedicht zieht – Kleidung, Land, Luft – unterstreicht die Melancholie und Eintönigkeit des Herbstes und des Lebens an sich.
Die letzten Strophen verstärken die Thematik der Vergänglichkeit. Das „alte Lied“ von Mühsal und Vergänglichkeit wird erneut besungen. Die Hoffnung auf „wenig Freiheit, wenig Liebe“ und der „arme Streit“ um das Wie des Lebens scheinen wenig Aussicht auf Erfolg zu haben. Obwohl die Hoffnung auf den Frühling und die Ernte in den flüsternden Halmen und dem Sichelglanz aufblitzt, ist das Schicksal des Einzelnen durch die Arbeit in der Vergangenheit und die Aussicht auf Vergessenheit vorgegeben. Die Zeilen, „Wir gehn und werden bald vergessen, / Und unsre Asche fliegt im Land!“, sind ein ergreifender Ausdruck der menschlichen Existenz im Angesicht von Zeit und Tod.
Insgesamt ist „Land im Herbste“ ein ergreifendes Gedicht über die menschliche Kondition, die Vergänglichkeit und die Suche nach Sinn inmitten des Kreislaufs von Leben und Tod. Die einfache Sprache und die eindringlichen Bilder erzeugen eine tiefe Melancholie und eine tiefe Ehrfurcht vor dem Leben und der Arbeit der Menschen, die das Land bebauen. Es ist eine Betrachtung über die Bedeutung des Einzelnen im Gesamten, ein Nachdenken über die Vergänglichkeit und die Hoffnung, die in der Arbeit, der Verbundenheit und der Erinnerung an die Vergangenheit liegt.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.