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Zwei Seelen

Von

Ich, Herr Tiger, bestehe zu meinem Heil
aus einem Oberteil und einem Unterteil.

Das Oberteil fühlt seine bescheidene Kleinheit,
ihm ist nur wohl in völliger Reinheit;
es ist tapfer, wahr, anständig und
bis in seine tiefsten Tiefen klar und gesund.
Das Oberteil ist auch durchaus befugt, Ratschläge zu erteilen
und die Verbrechen von andern Oberteilen
zu geißeln – es darf sich über die Menschen lustig machen,
und wenn andre den Naseninhalt hochziehn, darf es lachen.

Soweit das.
Aber, Dunnerkeil,
das Unterteil!
Feige, unentschlossen, heuchlerisch, wollüstig und verlogen;
zu den pfinstersten Pfreuden des Pfleisches fühlt es sich hingezogen –
dabei dumpf, kalt, zwergig, ein gräuliches
pessimistisches Ding: etwas ganz und gar Abscheuliches.
Nun wäre aber auch einer denkbar – sehr bemerkenswert! -,
der umgekehrt.

Der in seinen untern Teilen nichts zu scheuen hätte,
keinen seiner diesbezüglichen Schritte zu bereuen hätte –
ein sauberes Triebwesen, ein ganzer Mann und
bis in seine tiefsten Tiefen klar und gesund.

Und es wäre zu denken, dass er am gleichen Skelette
eine Seele mit Maukbeene hätte.

Was er nur andenkt, wird faulig-verschmiert;
sein Verstand läuft nie offen, sondern stets maskiert;
sogar wenn er lügt, lügt er; glaubt sich nichts, redet sich’s aber ein –
und ist oben herum überhaupt ein Schwein.

Vor solchem Menschen müssen ja alle, die ihn begucken,
vor Ekel mitten in die nächste Gosse spucken!
Da striche auch ich mein doppelkollriges Kinn
und betete ergriffen: „Ich danke dir, Gott, dass ich bin, wie ich bin!“

Was aber Menschen aus einem Gusse betrifft in der schönsten der Welten -:
der Fall ist äußerst selten.

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Gedicht: Zwei Seelen von Kurt Tucholsky

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Zwei Seelen“ von Kurt Tucholsky ist eine ironisch zugespitzte Selbstreflexion über die innere Zerrissenheit des Menschen, insbesondere über die Diskrepanz zwischen moralischem Anspruch und triebhafter Realität. In einer bewusst stilisierten Sprache, die zwischen Spott, Satire und scharfer Beobachtung wechselt, entwirft Tucholsky ein doppeltes Selbstporträt – mit einem „Oberteil“ und einem „Unterteil“ als Metaphern für Geist und Körper, Moral und Trieb, Ideal und Wirklichkeit.

Das „Oberteil“ repräsentiert das ethische, tugendhafte Selbstbild: Es ist „tapfer, wahr, anständig“ und fühlt sich nur in „völliger Reinheit“ wohl. Tucholsky überzeichnet diese Beschreibung bewusst, macht sie fast spöttisch, indem er das Oberteil als moralische Instanz stilisiert, die sich sogar über andere Menschen lustig machen darf. Hier wird die moralische Selbstgefälligkeit ironisiert – das Oberteil sieht sich als überlegen und unfehlbar, eine Karikatur der bürgerlichen Tugend.

Demgegenüber steht das „Unterteil“: triebgesteuert, feige, heuchlerisch, wollüstig. Es verkörpert das, was das Oberteil zu verbergen sucht – die niederen Instinkte und die Selbsttäuschung. Tucholsky macht daraus kein psychologisches Drama, sondern ein satirisches Zerrbild. Der Gegensatz zwischen Ober- und Unterteil wird zur Allegorie für die Doppelmoral des modernen Menschen: Der eine Teil predigt Tugend, während der andere Teil dem „Pfleisch“ erliegt.

In einem Gedankenexperiment entwirft Tucholsky dann das umgekehrte Szenario: ein Mensch mit „sauberem Triebwesen“, also einem moralisch untadeligen Körper, aber einem geistig verwahrlosten Oberteil. Dieser Mensch lügt sich selbst an, ist ein Heuchler in der Denkweise, „ein Schwein“ im Geiste. Der Spott gipfelt in einer absichtsvoll scheinheiligen Gebetsgeste: „Ich danke dir, Gott, dass ich bin, wie ich bin!“ – eine Parodie auf das Pharisäertum. Der Sprecher verurteilt damit nicht nur die anderen, sondern legt auch seine eigene Selbstgerechtigkeit offen.

Die letzte Zeile bringt die Pointe und die tiefe Wahrheit des Gedichts: Menschen „aus einem Gusse“ – also vollkommen integer und widerspruchsfrei – sind eine Rarität. Tucholsky entlarvt mit scharfer Ironie die Illusion vom moralisch klaren Selbstbild. Sein Gedicht ist ein kritischer Blick auf die Komplexität und Widersprüchlichkeit menschlicher Natur – mit einem Ton, der zugleich entlarvend, selbstironisch und philosophisch ist.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.