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Stationen

Von

Erst gehst du umher und suchst an der Frau
das, was man anfassen kann.
Wollknäul, Spielzeug und Kätzchen-Miau
du bist noch kein richtiger Mann.
Du willst eine lustig bewegte Ruh:
sie soll anders sein, aber sonst wie du…
Dein Herz sagt:
Max und Moritz!

Das verwächst du. Dann langt’s nicht mit dem Verstand.
Die Karriere! Es ist Zeit…!
Eine kluge Frau nimmt dich an die Hand
in tyrannischer Mütterlichkeit.
Sie passt auf dich auf. Sie wartet zu Haus.
Du weinst dich an ihren Brüsten aus…
Dein Herz sagt:
Mutter.

Das verwächst du. Nun bist du ein reifer Mann.
Dir wird etwas sanft im Gemüt.
Du möchtest, dass im Bett nebenan
eine fremde Jugend glüht.
Dumm kann sie sein. Du willst: junges Tier,
ein Reh, eine Wilde, ein Elixier.
Dein Herz sagt:
Erde.

Und dann bist du alt.
Und ist es soweit,
dass ihr an der Verdauung leidet:
dann sitzt ihr auf einem Bänkchen zu zweit,
als Philemon und Baucis verkleidet.
Sie sagt nichts. Du sagst nichts. Denn ihr wisst,
wie es im menschlichen Leben ist…
Dein Herz, das so viele Frauen besang,
dein Herz sagt: „Na, Alte…?“
Dein Herz sagt: Dank.

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Gedicht: Stationen von Kurt Tucholsky

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Stationen“ von Kurt Tucholsky skizziert in vier prägnanten Lebensphasen die sich wandelnde Beziehung des Mannes zur Frau – von der kindlich-spielerischen Projektion bis zur stillen, altersweisen Partnerschaft. In jeder Strophe steht eine bestimmte Frauenfigur sinnbildlich für eine Lebensetappe des Mannes, während sich dessen Haltung, Bedürfnislage und emotionale Reife verändern. Dabei gelingt es Tucholsky, mit knapper Sprache, Ironie und Tiefgang ein ganzes Männerleben zu umreißen.

In der ersten Strophe dominiert die kindlich-naive Sicht: Die Frau erscheint als „Wollknäul“, „Spielzeug“ oder „Kätzchen-Miau“ – eine Projektion von Niedlichkeit, die nichts mit wirklicher Partnerschaft zu tun hat. Das Ich sucht das Anfassbare, das Spielhafte – die Frau ist Objekt einer unreifen Fantasie. Die Zeile „Du willst eine lustig bewegte Ruh“ beschreibt treffend den inneren Widerspruch: Abwechslung, aber ohne tiefere Bindung. Das Herz meldet sich mit dem Ausruf „Max und Moritz!“ – ein Verweis auf kindliche Unreife und schelmisches Treiben.

Die zweite Phase ist durch Rationalität und gesellschaftliche Ambition geprägt. Der Mann strebt nach „Karriere“, nach Ordnung und Halt – was er nun in einer Frau sucht, ist Führung und Fürsorge. Die Frau wird zur mütterlichen Figur, die aufpasst, zu Hause wartet und tröstet. In ihrer „tyrannischen Mütterlichkeit“ liegt jedoch auch ein kritischer Unterton: Die Beziehung ist asymmetrisch und entindividualisiert. Das Herz ruft: „Mutter“ – ein Ausdruck der Regression, nicht der Reife.

In der dritten Strophe ist der Mann äußerlich „reif“, aber innerlich voller Verlangen nach Jugend und Instinkt. Die Frau wird nun zum erotischen Ideal: „junges Tier“, „ein Reh, eine Wilde“. Es ist weniger Liebe als Trieb – die Sehnsucht nach körperlicher Erneuerung, nach Ursprünglichkeit. Das Herz sagt: „Erde“ – ein symbolisches Wort für das Natürliche, Archaische, Unkontrollierte. Diese Phase beschreibt den Zwiespalt zwischen Reife und Rückfall in triebhafte Wünsche.

In der letzten Strophe schließlich ist das Alter erreicht. Der Mann und die Frau sitzen schweigend nebeneinander, die Leidenschaft ist Vergangenheit, und doch herrscht ein tiefes gegenseitiges Einvernehmen. Die Ironie des „Philemon und Baucis“-Bildes, einer mythischen Vorstellung ehelicher Eintracht bis zum Tod, wird durch die lapidare Bemerkung „Na, Alte…?“ gebrochen – und doch mit einem ehrlichen „Dank“ beendet. Hier kulminiert das Gedicht in einer zärtlich-resignativen Anerkennung der gemeinsamen Lebensreise.

Tucholsky gelingt mit „Stationen“ eine ebenso ironische wie menschlich einfühlsame Darstellung der männlichen Entwicklung in Bezug auf Frauen. Jede Stufe bringt neue Projektionen und Illusionen, doch erst im Alter scheint eine echte, von gegenseitiger Akzeptanz getragene Beziehung möglich. Das Gedicht ist ein feines psychologisches Porträt voller Beobachtungsgabe, Witz und stiller Weisheit.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.